Verletzt die Basler Haftpraxis die Menschenrechte?

Basler Zeitung Nr. 68, 21. März 1990

Die Strafprozessordnungen von Basel-Stadt und Baselland regeln das. Hauptverfahren vor Gericht fortschrittlich im Sinne eines unmittelbaren, mündlichen und kontradiktorischen Verfahrens. Hingegen vermögen die Praxis hiezu sowie die Gestaltung des Vorverfahrens den Anforderungen der Europäischen Menschenrechts Konvention und dem Verfassungsrecht nicht gerecht zu werden, weil der Strafverteidiger weitgehend ausgeschlossen ist: Wie können die Rechte der Angeschuldigten und ihrer Verteidiger ausgestaltet werden? Was muss geändert werden? Darüber sprach die BaZ mit den Anwälten Peter Zihlmann, Basel, und Pierre Joset, Binningen.

Als Strafverteidiger haben Sie sich auf Ihrem jeweiligen Gebiet einen Namen Kernacht, politisch dürften Sie das Heu nicht auf der gleichen Bühne haben, Sie spüren aber ein ähnliches Unbehagen. Ist bei uns der Spielraum für den Strafverteidiger zu eng?

Joset: Der Beruf des Anwalts lässt sich heute in gewissen Bereichen unter der geltenden Strafprozessordnung fast nicht korrekt ausüben. Das betrifft vor allem das Mitwirken des Anwalts im Ermittlungsverfahren sowie die Basler Haftpraxis, die den Minimalgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention und dein Verfassungsrecht nicht gerecht wird.

Zihlmann: Ich habe feststellen müssen, dass es praktisch unmöglich ist, im Vorverfahren den Standpunkt der Verteidigung einzubringen. Im Hauptverfahren, wie es heute praktiziert wird, kann dieser Mangel nicht mehr ausgeglichen werden. In einer Zeit, da das Strafrecht in immer mehr Lebensbereiche eindringt, ist dies besonders bedenklich.

Solche Kritik wird leicht als linkslastig abgetan. Wie reagieren Sie auf einen solchen Vorwurf?

Zihlmann: Unsere Kritik bedeutet lediglich ein Engagement für rechtsstaatliche Prinzipien. Den Anliegen der Europäischen Menschenrechtskonvention wird in den umliegenden europäischen Staaten, aber auch im angloamerikanischen Raum stärker entsprochen als hierzulande.

Joset: Uns geht es um die Herstellung der Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung im Verfahren, wie sie vom übergeordneten Recht gefordert wird. Andere Kantone haben diesbezüglich ihre Praxis bereits geändert, nun ist auch bei uns ein dringender Handlungsbedarf gegeben. So ist man etwa im Kanton Zürich mit einer entsprechenden Weisung der Revision der Strafprozessordnung zuvorgekommen.
Was den genannten Vorwurf anbetrifft: Wir vertreten ein liberales rechtsstaatliches Anliegen. Die Fortentwicklung des Rechts hat doch nichts mit einem Angriff auf unser Staatswesen zu tun. Die Rechte einer Minderheit, nämlich jener der Angeschuldigten, sind zu sichern – und dies entspricht einem elementaren demokratischen Gebot.

Was ist denn nun beider geltenden Strafprozessordnung nicht mit den Prinzipien eines Rechtsstaates zu vereinbaren ?

Joset: Beispielsweise die Haftpraxis, und zwar sowohl bei der Anordnung wie auch bei der Überprüfung, der Haft. In Basel-Stadt ordnet der Staatsanwalt die Haft an – und das ist . nach der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht zulässig, deren der Staatsanwalt ist nicht Richter beziehungsweise «Magistrat». Der Staatsanwalt erfüllt die Bedingungen (Artikel 5, Ziffer 3) der Menschenrechtskonvention (siehe den jüngsten Entscheid in Sachen Jutta Huber) nicht: Er ist zuwenig unabhängig von der Exekutive, vielmehr ist er ihr administrativ unterstellt; er selbst erhebt nach Abschluss der Ermittlungen die Anklage und ist Parteivertreter vor Gericht.

Die Behörde, die die Haft anordnet, müsste also von der Behörde entflochten werden,. die die Anklage erhebt? Welche Möglichkeiten stehen da offen?

Zihlmann: Ich möchte zunächst die Rolle des. Strafverteidigers im Rechtsstaat hervorheben: Er greift ein, bevor das Urteil gesprochen ist und in dieser Phase gilt die Unschuldsvermutung. Der Anwalt ist nicht Komplize des mutmasslichen Rechtsbrechers sondern hilft jedem, der in ein Strafverfahren verwickelt ist, seine Unschuld darzulegen oder zumindest die ihn entlastenden Momente einzubringen. Eine gute Strafprozessordnung hat ein korrektes Verfahren zu garantieren.
Die. Staatsanwaltschaft hat bei uns aufgrund der gegebenen Strafprozessordnung eine einzigartige„ Monopolstellung, die von der polizeilichen Ermittlung (das Kriminalkommissariat ist der Staatsanwaltschaft unterstellt) über die Haftverordnung bis zur Anklageerhebung reicht. Zudem sollte sie nach der Strafprozessordnung auch die Elemente einbringen, die den Angeklagten entlasten. Die Staatsanwaltschaft hat somit zu viele Funktionen zu erfüllen; ein Aufteilen der Kompetenzen ist angebracht. Als eine strukturelle Massnahme unter anderen sollte die Kompetenz, Untersuchungshaft anzuordnen, einem neutralen Richter übertragen werden.

Joset: Konkret könnte das so aussehen, dass als Sofortmassnahme ein Strafgerichtspräsident die Rolle eines Haftanordnungsrichters übernimmt. Die Haftüberprüfung könnte, wie in anderen Kantonen, dem Appellationsgericht als Rekursinstanz übertragen werden.

Nachdem ein Verdächtigter in Untersuchungshaft gesetzt worden ist, wie steht es da um seine Rechte?

Zihlmann: Er steht unter dem Schock der Verhaftung und hat keine Möglichkeit, sogleich mit einer Vertrauensperson zu sprechen. Als einzige Bezugspersonen stehen ihm die Untersuchungsbeamten zur Verfügung, und da kann er in einen inneren Konflikt geraten: Soll er ihnen mit weitgehenden Informationen entgegenkommen oder nicht? Auf jeden Fall hat er in Basel nicht die Möglichkeit, sofort einen Rechtsanwalt beizuziehen. Er wird vielmehr in der Isolation belassen, in der Absicht, ihn so zu zermürben, dass er ein Geständnis ablegt. Im Ausland hingegen hat sich die moderne Auffassung weitgehend durchgesetzt, den «Verteidiger der ersten Stunde» zuzulassen.

Joset: Oft vergehen 14 Tage, bis der Anwalt die erste Besprechung mit seinem Mandanten aufnehmen kann. Das wäre aber die entscheidende Phase, werden doch dann die Ermittlungen am intensivsten geführt.

Und wie steht es mit dem Offizialverteidiger, also mit dem von der Gerichtskasse bezahlten Pflichtverteidiger?

Joset: Die Offizialverteidigung muss beantragt werden, zudem ist dies nur dann möglich, wenn das Ermittlungsverfahren bereits abgeschlossen und die Anklage angekündigt worden ist. Es sei denn. dass ein besonders verwickelter Fall vorliegt oder ein Fall, der für den Betroffenen von schwerwiegender Tragweite ist: Droht ihm also eine Zuchthausstrafe, so können die «zusätzlichen Rechte» gewährt werden. In Basel wird diese ohnehin restriktive Regelung von der Staatsanwaltschaft noch zusätzlich einschränkend gehandhabt.

Ist denn die heutige Strafprozessordnung ganz und gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit?

Zihlmann: Ja, in manchen Punkten wird sie zudem einseitig praktiziert oder nicht angewendet. So sagt etwa Paragraph 26, dass der Angeschuldigte nicht verpflichtet ist, auszusagen. In der Praxis wird er aber nicht belehrt, dass ihm das Recht der Aussageverweigerung zusteht. Zusätzlich wird die mangelnde Rechtsbelehrung bei uns nicht sanktioniert: In den USA dürfen die Aussagen vor Gericht nicht verwertet werden, wenn keine oder eine ungenügende Rechtsmittelbelehrung stattgefunden hat.

Ohne Akteneinsicht wird Verteidigung hinfällig

In der Verteidigung kommt der Akteneinsicht eine zentrale Bedeutung zu. Wie steht es um dieses Recht?

Zihlmann: Auch hier kommt ein Mangel der Strafprozessordnung und der Praxis zum Ausdruck. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass Akteneinsicht im allgemeinen erst nach der Ankündigung der Anklage gewährt wird. Werden in schwierigen oder schweren Fällen die «zusätzlichen Rechte» beantragt, kommt ein Gummiparagraph ins Spiel: Dieser besagt, dass Akteneinsicht gewährt wird, «wenn der Zweck der Ermittlung erreicht ist». Die Staatsanwaltschaft verfügt so über einen Ermessensspielraum, den sie zulasten der Verteidigung ausnützt.
Ohne Akteneinsicht werden alle anderen Verteidigerrechte illusorisch. Der von Rechts wegen freie Verkehr des Anwalts mit seinem angeschuldigten Klienten wird dadurch degradiert, kann doch ohne Akteneinsicht dem Klienten eigentlich sozusagen nur noch gutzugesprochen werden.

Joset: Beim Haftrecht hat sich die Problematik aktualisiert: Die Rechtsprechung des Bundesgerichts einerseits und die Europäische Menschenrechtskonvention anderseits erklären die Haftüberprüfung ohne Akteneinsicht als illusorisch. Vom Haftrecht her gesehen ist die heutige Strafprozessordnung gar nicht mehr gültig.
Ausdrücklich hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 30. März 1989 (dargestellt und kommentiert in der Zeitschrift «Plädoyer» 1990, Nr. 1) und in der Folge das Bundesgericht (Urteil in Sachen Magharian) dem Anwalt des Verhafteten das Recht auf Akteneinsicht und auf vollständige Stellungnahme zum Standpunkt der Anklage (Replikrecht) im Haftüberprüfungsverfahren zuerkannt.

Zihlmann: Die Entscheide des Bundesgerichts sind immer nur punktuell, haben aber durch ihre Begründung allgemeinere Bedeutung. Die Praxis wird immer noch nicht einheitlich in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Bundesgerichts gehandhabt.

Joset: Ich hege hingegen die Hoffnung, dass nun die Waffengleichheit zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung aufgrund der jüngsten Entscheide des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs doch langsam hergestellt wird. Im Kanton Baselland beispielsweise finden nun erstmals versuchsweise kontradiktorische mündliche Haftüberprüfungsverfahren vor einem unabhängigen Gericht – der Überweisungsbehörde statt, und zwar ohne dass die Strafprozessordnung vorgängig formell geändert worden ist.

Zihlmann: In Basel wäre es jetzt nötig, dass klare Weisungen erteilt werden. Nur damit könnten die zahlreichen Wenn und Aber vermieden werden, so dass eine einheitliche Praxis möglich wird. Das Bundesgericht nimmt mit seinen Entscheiden Stellung zu konkreten Fällen, aufgrund seiner Begründung ist jeder Entscheid verallgemeinerungswürdig. Das geschriebene Recht wird so revidiert. Nun müsste aber festgelegt werden, in welchem Ausmass das der Fall ist und welche verfahrensmässige Konsequenzen zu ziehen sind. Zahlreiche Fragen sind noch offen.

In Zürich hat die Verwaltungskommission des Obergerichts bereits entsprechende Weisungen erteilt. Die eingereichte Zürcher Volksinitiative «Gesetz über den Rechtsschutz in Strafsachen» packt das Problem gar grundsätzlich an.

Joset: Diese Initiative will zum einen die Rechte des Opfers verbessern, zum anderen die Rechte der Angeschuldigten. Was letztere anbetrifft, so wird unter anderem der «Anwalt der ersten Stunde» verlangt («Jede festgenommene oder verhaftete Person hat das Recht, unverzüglich mit einem Verteidiger ihrer Wahl in Kontakt zu treten…»). Eine weitere Forderung ist, dass die Angeschuldigten sogleich auf ihr Recht hingewiesen werden, die Aussage verweigern zu dürfen. Die Erstunterzeichner der Initiative sind Anwälte aus allen politischen Lagern. In den Reihen der Basler Anwaltschaft vermisse ich die Energie, mit Nachdruck dahingehend zu wirken, dass die Strafprozessordnung revidiert wird. Die Standesorganisation sollte das Heft in die Hand nehmen, sie ist noch zuwenig an der Meinungsbildung beteiligt.

Inquisitorisches Verfahren

Wie kommt es, dass die Bevölkerung im allgemeinen nicht zur Kenntnis nimmt, dass es um die Rechte der Angeschuldigten arg steht?

Zihlmann: Die Strafprozessordnung wird von der Bevölkerung meistens als etwas gesehen, das sie nicht betrifft. Doch das ist falsch. Man bedenke nur, dass das Gesetzesnetz immer dichter wird. Jeder Gewerbetreibende zum Beispiel bewegt sich im Dschungel des Verwaltungsstrafrechtes, in welchem er schnell einmal kriminalisiert werden kann. Eine Sensibilisierung der Bevölkerung für diese Problematik ist erst im Gange.

Hat sich demnach die Bevölkerung in Verdrängung geübt? Sagt sich jeder: «Ich werde ja sowieso nie mit der Staatsanwaltschaft in Berührung kommen» ?

Joset: Das ist die Illusion. Eltern von drogenabhängigen Jugendlichen zum Beispiel kommen dann voller Entsetzen zu mir und sagen: «Wenn wir das gewusst hätten! Das geht ja zu wie im tiefsten Afrika: Wir und unsere Kinder habe ja gar keine Rechte.» Oft fühlen sie sich auch von den Untersuchungsbeamten arrogant behandelt. Erst dann dämmert es ihnen langsam.

Zihlmann: Das ist genau der Punkt: Wenn der einzelne einmal mit den Strafverfolgungsbehörden konfrontiert ist, dann fällt er zunächst aus allen Wolken. Sie fragen dann ihren Anwalt: «Warum können Sie denn nicht dabei sein bei einer Einvernahme, warum dürfen Sie nicht die Akten einsehen, warum wird jener und dieser Beweisantrag abgelehnt?»
Uns geht es darum, den Bürger in seiner Naivität aufzuklären und ihn gegebenenfalls vor ungerechtfertigter Strafverfolgung zu schützen. Dies ist besonders wichtig, wenn Untersuchungshaft droht, denn Haft hat eine starke stigmatisierende Wirkung, ist gewissermassen ein Brandzeichen, und hat den Charakter einer Vorverurteilung, gegen welche nur mit Schwierigkeiten angekämpft werden kann. Die Untersuchungshaft sollte zeitlich unbedingt begrenzt werden, wie dies zum Beispiel in Frankreich der Fall ist, wo sie durch Verordnung auf vier Monate befristet worden ist. Eine Verlängerung um zwei weitere Monate ist möglich, doch dann muss der Angeschuldigte entlassen werden.

Joset: Die kantonalen Strafprozessordnungen sind teilweise ausser Kraft gesetzt. Es gibt Richter, welche die EMRK-Organe (EMRK: Europäische Menschenrechtskonvention) als «fremde Richter» betrachten und die Minimalgarantien der EMRK ä tout prix nicht akzeptieren wollen. Da zeigt sich die Enge, die Berglermentalität der Schweiz. Die Revision der Strafprozessordnung wird mit allen nur möglichen taktischen Mitteln verzögert.

Zihlmann: Der Verteidiger wird vor Gericht nur akzeptiert, sofern er das Verfahren nicht verzögert. Dabei wird er unweigerlich zum Verzögerer gemacht, da er vom Ermittlungsverfahren ausgeschlossen ist. Das ist ein fataler Teufelskreis. Die Rolle des Verteidigers sollte stärker als unabdingbarer Teil des kontradiktorischen Suchens nach der Wahrheit gesehen werden. Nur so kann das inquisitorische Verfahren überwunden werden, bei welchem die gleiche Stelle ermittelt, anklagt – und erst noch die entlastenden Momente herausschälen sollte.

Interview Victor Weber und Jürg Meyer

Europäische Menschenrechtskonvention

Artikel 5 Ziffer 3

«Jede nach der Vorschrift des Absatzes 1 (c) dieses Artikels festgenommene oder in Haft gehaltene Person muss unverzüglich einem Richter oder einem anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden. Er hat Anspruch auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung während des Verfahrens. Die Freilassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden. »