Charta für gerechtere Untersuchungshaft

Basler Zeitung Nr. 118,  24. Mai.1991

Wissenschaftliche Untersuchungen (Nachweis durch Prof. Franz Riklin, Freiburg, in «Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht» 1987 S.57-91) beweisen es: In der Praxis der schweizerischen Strafverfolgungsbehörden werden zu viele Verhaftungen für eine zu lange Dauerausgesprochen. Es wird zu viel, zu schnell und zu lange verhaftet.
Allein in Basel sind dauernd über 200 Personen in Untersuchungshaft (UH), jedes Jahr sind es über 2000 Ein- und Austritte, ungleich viel mehr haben sich ohne Verurteilung für den vorzeitigen Strafvollzug gemeldet, um den mittelalterlichen Haftbedingungen des Lohnhofs zu entgehen.

Untersuchungshaft Ist keine Strafe

Die UH ist keine Strafe, auch wenn sie sich so auswirkt. Sie dient der Strafverfolgung und soll namentlich verhindern, dass der eines Verbrechens Verdächtige flüchtet oder Beweise beseitigt. Die UH ist zu unterscheiden von der Freiheitsstrafe, welche der Richter für Übertretungen verhängen kann (Haft bis maxi- mal drei Monate oder Busse als Strafdrohung). Die UH richtet sich gegen die Freiheit eines jeden von uns. Die Haft beruht auf Verdacht. Der Ver- dacht kann jeden treffen. Er kann sich im Verlauf der Ermittlungen und des anschliessenden Strafprozesses als richtig, aber genausogut auch als falsch erweisen. Bis dahin aber trifft die, Haft einen möglicherweise Unschuldigen. Die Haft kann den Falschen treffen aufgrund einer Verwechslung, einer falschen Anschuldigung infolge einer persönlichen oder politischen Auseinandersetzung. Oft sind die Voraussetzungen, die zur Haft führen, unklar, und der Gesetze und ihrer Strafsanktionen ist Legion, deren Auslegungen unvorhersehbar. Die Haft wird jedoch in jedem Fall sofort auf Verdacht hin im Interesse der Strafverfolgung verfügt. Die UH ist ein gefährliches Mittel staatlicher Macht. Sie bedarf klarer rechtsstaatlicher Grenzziehung. Es sind Grundsätze zu schaffen und im Strafprozess zu anerkennen, deren Beachtung dazu führt, die Freiheit des einzelnen zu respektieren, ohne die Strafverfolgung zu gefährden. Neue Formen der Kriminalität führen zu Abwehrmassnahmen der Strafverfolgung. Der Kampf gegen die Kriminalität darf aber nicht zu einem Kampf der Strafverfolgungsorgane gegen den Bürger ausarten. Die Europäische Menschenrechtskonvention‘ (EMRK) ist eine wichtige, wenn auch keineswegs die ausschliessliche Quelle solcher Grundsätze für eine rechtsstaatlich gerechtfertigte UH. Der Verhaftete hat allem voran Anspruch auf die Unschuldsvermutung der EMRK. Seine Schuld an der ihm vorläufig zur Last gelegten Tat ist nicht gerichtlich festgestellt. Erst im Strafprozess wird die Schuld oder die Integrität des Beschuldigten beurteilt. Für den Unschuldigen jedoch bedeutet die Haft die Fessel, die ihn daran hindert, einen unberechtigten Angriff auf seinen Anspruch, ein ehrbarer Mensch zu sein, wirksam abzuwenden. Haft wirkt sich auf die sozialen Beziehungen des Häftlings, auf seine moralische wie seine wirtschaftliche Existenz (z.B. Verlust des Arbeitsplatzes) zerstörerisch aus und versieht den Häftling mit dem Kainsmal. Jeder hat daher Anspruch auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung. Dieser Schutz ist in der Schweiz auf weiten Gebieten ungenügend. Die Grundsätze der EMRK haben sich in der schweizerischen Haftpraxis noch nicht voll durchgesetzt. Der Weg nach Strassburg zum Europäischen Gerichtshof ist für Haftfälle zu lang. Die Schweiz hat trotz zahlreicher Verurteilungen ihre kantonalen Strafprozessordnungen nur schleppend und nicht in allen Belangen der EMRK-Situation angepasst. Dazu trägt die zu geringe politische Bedeutung der UH bei.

Grundsätze für gerechtere Untersuchungshaft

Es sollen daher in einem Zehnpunkteprogramm die Grundsätze vorgestellt werden, die zu beachten sind, damit die Haftpraxis rechtsstaatlich und EMRK-konform werden kann. Den Grundsätzen wird eine Begründung angefügt, die mit einem Hinweis auf den Zustand im Kanton Basel-Stadt abschliesst, wo eine Revision des Haftrechts wegen des Machtmonopols der Staatsanwaltschaft dringlich ist. Die Totalrevision der Strafprozessordnung ist zwar im Gang, wird aber noch Jahre beanspruchen. Hingegen wird demnächst eine Teilrevision zur Einführung des Haftanordnungsrichters vorgelegt werden.

1. Haftrichter und Haftgrund

Untersuchungshaft darf nur von einem unabhängigen Richter nach persönlicher Anhörung des Verhafteten und Durchführung eines EMRK-konformen Verfahrens ausgesprochen werden. Der Entscheid ist innert drei Tagen seit Festnahme zu erlassen. Als Haftgrund gelten bei dringendem Tatverdacht nur konkrete Flucht- oder Kollusionsgefahr.

Die Haft ist das grösste Übel, das ein Rechtsstaat dem einzelnen zufügt, weil es diesem sein höchstes Gut, die‘ persönliche Bewegungsfreiheit, raubt, und dies, ohne dass in einem ordentlichen Verfahren die Schuld festgestellt ist. Diese Massnahme darf daher in Übereinstimmung mit den EMRK-Grundsätzen nur durch einen Richter nach einem mündlichen und kontradiktorischen Verfahren, in welchem der Verteidiger des Verhafteten Akteneinsicht (vgl. Punkt 4) .erhalten hat, angeordnet werden. Voraussetzung der UH ist neben dem dringenden Tatverdacht das Vorliegen des Haftgrunds der Flucht oder Kollusionsgefahr. In beiden Fällen ist eine konkrete, sich aus den Umständen des Einzelfalls und dem Verhalten des Verhafteten sich ergebende konkrete Gefahr nachzuweisen. Die Anerkennung der Wiederholungsgefahr als Haftgrund läuft auf eine Präventivhaft hinaus und ist unvereinbar mit der Eigenverantwortlichkeit des einzelnen. In Basel-Stadt ist die Staatsanwaltschaft ermittelnde, untersuchende, verhaftende und anklagende Behörde, was der EMRK widerspricht.

2.. Haftschwelle

Keine Untersuchungshaft darf für Bagatelldelikte ausgesprochen werden und nicht gegen unbescholtene Personen, sofern sie nicht dringend einer Tat verdächtig sind, für die eine unbedingte Freiheitsstrafe zu erwarten ist.

Nach dem Grundprinzip staatlichen Handelns, dem Verhältnismässigkeitsprinzip, kann einer Person zu Untersuchungszwecken die Freiheit nur genommen werden, wenn damit zu rechnen ist, dass sie im Falle der Richtigkeit des Verdachts überhaupt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt wird. Diese Voraussetzung ist bei Verdacht auf Bagatelldelikte oder selbst auf schwerere Delikte gegenüber Ersttätern, die praxisgemäss Anspruch auf eine Warnstrafe haben (bedingte Freiheitsstrafe unter Auferlegung einer Probezeit), nicht gegeben. Eine Haftschwelle ist in Basel nicht vorhanden.

3. Maximalfrist der Untersuchungshaft

Jede Haft fällt nach vier Monaten endgültig dahin, sofern bis zu diesem Zeitpunkt keine Anklage erhoben ist, nach sechs Monaten fällt jede Haft dahin. Ausnahmen sind nur zulässig bei konkretem Nachweis einer bevorstehenden Beweiserhebung. In keinem Fall darf die Untersuchungshaft länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe.

Zeitlich klar begrenzte Maximalfristen sind aus Rechtssicherheitsgründen unerlässlich, um das Beschleunigungsgebot der EMRK durchzusetzen. Solche Maximalfristen sind der einzige Weg, um überlange Haftzeiten auszuschliessen. Kann nicht innert nützlicher Frist Anklage erhoben werden, so beweist dies, dass die Grundvoraussetzung der Haft, der dringende Tatverdacht, nicht stichhaltig ist. Die UH darf nicht dazu missbraucht werden, in unklaren Fällen vom Häftling ein Geständnis abzunötigen. In Basel sind Maximalfristen für UH unbekannt.

4. Verteidiger der ersten Stunde

Jeder Verhaftete hat das Recht auf sofortigen Beizug eines Verteidigers, dem Akteneinsicht zu gewähren und dem unbeaufsichtigter persönlicher und brieflicher Verkehr sowie die Anwesenheit auch bei der ersten einlässlichen Einvernahme des Verhafteten zu bewilligen ist. Der Verhaftete Ist über seine Rechte, einschliesslich sein Recht zu schweigen, sofort nach der Festnahme zu belehren und darüber ist ein Protokoll anzufertigen.

Der Verhaftete ist aus seiner sozialen Umwelt herausgerissen und nicht mehr fähig, seine Verteidigung, namentlich die Bemühungen um Aufhebung ungerechtfertigter Haft aus eigener Kraft zu erreichen. Er hat daher das Recht auf Beistand und Beratung noch vor der ersten Einvernahme. Der Verteidigerbeizug schafft Waffengleichheit, verhindert weitgehend Obergriffe der Ermittlungsbehörde, aber auch unbedachte Bestreitungen oder falsche Geständnisse des Häftlings. In Basel-Stadt ist die Verteidigung regelmässig erst ab Anklageerhebung zugelassen, vorher nur eingeschränkt (beratend, ohne Anwesenheitsrecht bei Einvernahmen) und abhängig von der Bewilligung des Staatsanwalts.

5. Offizialverteidigung

Dem mittellosen Verhafteten ist ein Offizialverteidiger seiner Wahl zur Vertilgung zu stellen.

Der Anspruch folgt aus dem Gebot der Rechtsgleichheit. In Basel wird nur ausnahmsweise bei schweren Delikten die Offizialverteidigung gewährt.

6. Haftprüfung

Alle zehn Tage ist ein rasches, EMRK-konformes Haftprüfungsverfahren sowie der Weiterzug an ein Obergericht mit voller Überprüfung der Such- und Rechtsfrage zu gewährleisten.

Die UH soll aufgrund der sich wandelnden Erkenntnisse im Ermittlungsverfahren stets richterlich überprüfbar sein. Die Möglichkeit ,zur unabhängigen obergerichtlichen Abklärung ist der Bedeutung der Massnahme angemessen. Die UH darf in keinem Fall länger dauern, als ihre Voraussetzungen gegeben sind. In Basel-Stadt ist kein mündliches, rasches Haftprüfungsverfahren vorhanden. Der Wegführt zeitraubend über eine Einsprache an den Ersten Staatsanwalt, bevor der Zugang zum Gericht möglich ist Einkantonaler Weiterzug dieses Haftentscheids ist nicht möglich. Es steht nur das unvollständige Rechtsmittel der staatsrechtlichen Beschwerde an das Bundesgericht offen.

7. Ersatz für Untersuchungshaft

Die Möglichkeiten der Ersatzmassnahmen anstelle der Haft (Kaution, Schriftensperre, polizeiliche Meldepflichten) sind auszubauen.

Nach dem Subsidiaritätsprinzip ist die mildere Form anstelle der härteren Zwangsmassnahme zu wählen, wenn jene dem angestrebten Zweck bereits genügt. In der Basler Praxis spielen die Ersatzmassnahmen eine vernachlässigte Rolle.

8. Haftentschädigung

Materieller Schaden durch objektiv ungerechtfertigte Haft ist von einem unabhängigen Richter, der mit der Haftsache nicht befasst war, zu Lasten des Staats zu ersetzen und eine angemessene Genugtuung zuzusprechen.

Die Haft erweist sich als unbegründet im Falle eines Freispruchs, wie auch im Falle der Einstellung des Verfahrens. Ein schuldhaftes Verhalten des Staats bei Haftanordnung braucht nicht vorzuliegen. Trotzdem ist dem zu Unrecht Verhafteten der materielle und immaterielle Schaden, der ihm durch die UH entstanden ist, zu ersetzen. Diese Ersatzpflicht bildet auch ein Gegengewicht gegen eine zu liberale Handhabung der Verhaftungspraxis. In Basel-Stadt sind die Entschädigungsbestimmungen zu sehr auf das Verschulden des Häftlings und der Strafverfolgungsorgane fixiert.

9. Humaner Vollzug der Untersuchungshaft

Der Vollzug der Haftstrafe ist zu humanisieren über die Mindestanforderungen der EMRK hinaus.

Es ist daran festzuhalten, dass Haft keine Strafe ist. Der Inhaftierte darf in seiner persönlichen Freiheit nicht mehr eingeschränkt werden, als es der Zweck der Haft erfordert. Verhaftete, die medizinisch betreut werden müssen, haben Anspruch auf Verlegung in eine Klinik oder in eine andere geeignete Anstalt; ansonst die Haft unzulässig ist. Der Haftvollzug in Basel ist rückständig.

10. Kein vorzeitiger Strafvollzug

Die Einweisung des Verhafteten in den vorzeitigen Strafvollzug vor Verurteilung ist abzuschaffen.

Die Strafe ist ein dem Verurteilten zwangsweise auferlegtes Übel. Sie setzt ein Urteil voraus und darf auch freiwillig vorher nicht vollzogen werden. Das in der Praxis bestehende Dilemma, dass der Strafvollzug humaner als der Haftvollzug ist, soll durch eine Änderung der UH-Vollzugspraxis gelöst werden. Wer sich freiwillig für den vorzeitigen Strafvollzug meldet, ist vorverurteilt und verwirkt seinen Anspruch auf ein faires Verfahren unter Beachtung der Unschuldsvermutung. Die Schweiz ist das einzige Land, welches einen vorzeitigen Strafvollzug kennt. In Basel-Stadt spielt der vorzeitige Strafantritt in der Praxis eine zu grosse Rolle. Er verdeckt die Problematik der langen UH.

 

Die Regelung der Untersuchungshaft ist in manchen schweizerischen Kantonen, auch in Basel, problematisch wie der Anwalt Dr. iur. Peter Zihlmann in seiner hier gedruckten «Charta» aufweist Sie widerspricht zum Teil auch der Europäischen Menschenrechtskonvention und bedarf dringend einer Revision. In Basel soll die Strafprozessordnung totalrevidiert werden, was aber noch Zeit brauchen wird. Kurzfristig wird deshalb die Regierung dem Grossen Rat die unverzügliche Einführung des Haftrichters beantragen.

Red.