Justiz sucht Waagschale

Baslerstab, 03. Januar 2003

Buch: «Macht Strafe Sinn?»

Die Fälle eines Basler Anwalts geben zu denken. Und sie machen Angst.

Ein 16-jähriges Mädchen wird am Morgen des 29. Mai 1989 in Basel verhaftet. Vier Beamte der Basler Kantonspolizei nehmen die Schülerin aufgrund einer von der Basler Jugendanwaltschaft ausgestellten «Wegnahmeverfügung» mit.
Fast ein Jahr später, am 2. April 1990, kann die junge Frau wieder zu ihrer allein erziehenden Mutter zurückkehren. Das Vergehen des Mädchens: Es hatte seinem Lehrer eine Packung Haarkur nach Hause bestellt und ihn zudem mehrfach telefonisch belästigt.
«Die Odyssee des bis dahin vollkommen ‹unauffälligen› Mädchens, das bei seiner Mutter, einer Staatsangestellten, einen Teenageralltag wie Millionen andere lebte, hat es für sein ganzes Leben geprägt», stellt ihr damaliger Anwalt, der Basler Peter Zihlmann, fest.

Völlige Unfassbarkeit

Unfasslich bleibt für ihn nicht nur, dass seine Mandantin wegen eines Jugendstreichs umgehend in ein geschlossenes Jugendheim verfrachtet wurde, sondern dass der Anklage der Jugendanwaltschaft durch alle Instanzen, sogar beim Bundesgericht, stattgegeben wurde: Dem Teenager, der fast ein Jahr mit Drogensüchtigen und psychisch Geschädigten verbrachte, wurde nebst dem Verdacht der «boshaften Vermögensschädigung und Urkundenfälschung» auch eine Fortsetzungsgefahr unterstellt, was eine «Abklärung der Versorgungsbedürftigkeit» mit sich zog. Dies alles wegen einer Deliktsumme von «knapp 30 Franken», erinnert sich Zihlmann und fügt an, dass seine Klientin erst nach der Intervention des Blick «beurlaubt» wurde. Und dass sie seither von der Justiz unbehelligt blieb, weder Entschuldigung geschweige denn Entschädigung erhielt, während die damals ermittelnden Beamten bis heute emsig an ihrer Karriere bastelten, stellt der Anwalt und Notar sarkastisch fest.
Eine Posse? Ein Justizirrtum? Ein Einzelfall? «Das letzte mitnichten», dementiert der 65-Jährige entschieden und kommt auf sein neues Buch zu sprechen. «Macht Strafe Sinn» ist der Titel des Buches und die quälende Frage aller, die sich ernsthaft und kritisch mit der Strafjustiz auseinander setzen – oder es tun sollten.
Der im Schulthess-Verlag erschienene Band ist die logische literarische Konsequenz auf das vor drei Jahren publizierte Werk «Justiz im Irrtum», dem auch der eingangs geschilderte Fall der 16-Jährigen entnommen wurde.

Gelebte Ungerechtigkeit

In «Macht Strafe Sinn?» analysiert der Autor die Dynamik eines Rechtssystems, das für sich beansprucht, das einzig richtige zu sein, und sich im Zweifelsfall lieber an der Dehnbarkeit seiner Artikel und Paragraphen denn am gesunden Menschenverstand orientiert.
Dass sich die Überlegungen des Kritikers Zihlmann erneut an authentischen Fällen seiner Praxis orientieren, schmälert den Gehalt seiner rechtsphilosophischen Denkanstösse gar nicht: Sein Buch bleibt ergreifender als alle fiktiven Thriller, weil es Justizfälle aus unserer Gesellschaft schildert. Einer Gesellschaft, der Ungerechtigkeiten lieber sind als eine Unordnung.

ash.