Das Leiden am Ungenügen der Justiz

Neue Luzerner Zeitung, Zentralschweizer Tagesanzeiger, 10. Dezember 2002

Ein erfahrener und engagierter Jurist hinterfragt die Justiz. Autor Peter Zihlmann war während Jahrzehnten als Rechtsanwalt, Strafverteidiger und nebenamtlicher Richter tätig. Aufgerüttelt durch Begegnungen mit Menschen am Rand der Gesellschaft und durch fragwürdige Prozessergebnisse, beginnt er am Recht, an der Legitimation des Staates, Menschen zu bestrafen, und am Sinn der Strafe selbst zu zweifeln.

Krankmachende Wirkung

Wohl wissend, dass er sich mit seinen bohrenden Fragen bei der Juristenzunft in die Nesseln setzt, wagt sich der Autor in einer allgemein verständlichen, zuweilen plakativen Sprache immer weiter hinaus auf das Feld einer radikalen Justizkritik, bis er zum Fazit gelangt: «Die Justiz ist im Irrtum. Sie ist es, wenn sie Strafe als gerecht bezeichnet.» Unser Strafrechtssystem erweise sich zunehmend als nicht effektiv und schädlich.
Nicht nur der Strafvollzug, sondern schon der Strafprozess habe «eine zerstörerische, krankmachende Wirkung auf den Angeklagten». Der Ausbau des Strafapparates und der Repression löse die sozialen Probleme so wenig, wie durch Aufrüstung der Weltfrieden gefördert werden könne.
An Stelle des herkömmlichen Strafverfahrens schwebt Zihlmann ein «Wahrheits- und Erkenntnisprozess» vor, der nicht Opfer und Täter gegeneinander ausspielt und der nicht im Freiheitsentzug endet, sondern den rechten Ausgleich ohne ausgrenzende Sanktionen ermöglicht. Die Strafe soll durch das «Bewusstsein der Verantwortung und des Respekts den Mitmenschen gegenüber» abgelöst werden.

Humaner Querdenker

Solche Forderungen tönen, obwohl sie nicht durchwegs neu sind und etwa in Deutschland auf wissenschaftlicher Ebene wieder ernsthaft diskutiert werden, in einer Zeit gesteigerter Sicherheitsbedürfnisse ziemlich utopisch. Dahinter steht jedoch ein Querdenker mit einer humanen Grundhaltung, die Respekt und Gehör verdient. Seine aus der Praxis genährten, bewusst einseitigen Thesen regen zumindest zum nützlichen Nachdenken an. Der Strafanspruch des modernen Staates ruht nämlich auf schwankenden Fundamenten, der Strafvollzug ist aufwändig und weniger wirksam, als wir uns das wünschten. Solche Fragen verdrängt eine auf Funktionieren ausgerichtete Gesellschaft nur zu leicht – Peter Zihlmanns persönliches Bekenntnis möchte dem entgegenwirken.

H. M.