Die Schweizer Luftwaffe darf neuerdings Flugzeuge in der Gewalt von Terroristen abschiessen

Die Lizenz zum Töten führt in ein Dilemma

Basler Zeitung vom 16.02.2018
von Peter Zihlmann

Die Terrorattacken auf das World Trade Center in New York City vom 11. September 2001 mit nahezu 3000 Todesopfern haben nicht nur die Twin Towers zum Einsturz gebracht, sondern unser Denken und unsere Wahrnehmung der Welt verändert. Seither breitet sich weltweit die Angst aus, als Flugpassagier in die Gewalt von Terroristen zu geraten. Das kann jederzeit und überall passieren, nicht nur in Krisengebieten. Das Besondere am 9/11-Ereignis besteht darin, dass Passagiere von vier Flugzeugen durch Terroristen in Zielobjekte am Boden geleitet wurden, wo noch ungleich grösserer Personenschaden angerichtet werden sollte und zum Teil tatsächlich angerichtet wurde. Die Passagiere waren unschuldig «zum Teil einer Waffe in Terroristenhand» geworden.

Seither erhebt sich die Frage: Darf ein derart von Terroristen gekapertes Flugzeug von der Luftwaffe abgeschossen werden, um noch grösseren Personenschaden am Zielort zu verhindern? Darf der Staat in Friedenszeiten rechtmässig unschuldige Menschen als Passagiere töten, um eine voraussichtlich viel grössere Zahl von Menschen am Boden zu retten, falls davon auszugehen ist, dass sie von Selbstmordattentätern mit dem Flugzeug getötet werden sollen?

Die Antwort des Gesetzgebers

Schon diese entsetzliche Fragestellung lässt das Dilemma, das ihr zugrunde liegt, erkennen. Das Recht auf Leben und Menschenwürde wird in der schweizerischen Bundesverfassung ausdrücklich garantiert (Artikel 7 und 10). Muss nicht schon von daher ein Abschuss als vorsätzliche Tötung kategorisch ausgeschlossen sein?

In Deutschland ist das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. Februar 2006 zu diesem Ergebnis gelangt. Der entgegenstehende Passus des deutschen Luftsicherheitsgesetzes wurde für nichtig erklärt (Artikel 14, Absatz 3). In Friedenszeiten kann in Deutschland kein legaler Abschussbefehl ergehen, auch nicht in Extremfällen von Notstand. Das Urteil ist umstritten.

In der Schweiz scheint die Rechtslage geradezu konträr zu sein. Seit dem 1. Januar 2018 sieht das Militärgesetz eine Abschussermächtigung vor (Artikel 92a). Zuvor war dies auf rechtsstaatlich unzulänglicher Verordnungsstufe geregelt. Aber selbst ein formelles Gesetz, das dem fakultativen Referendum untersteht, kann nicht in den Kernbereich von Grundrechten eingreifen.

Bereits der Gesetzesentwurf des Bundesrats enthielt eine grundsätzliche Abschussermächtigung (Bundesblatt 2014, S. 7074). Nach einer Kommissionsberatung wurde die sechs Absätze umfassende Regelung in das Militärgesetz aufgenommen. Der Bundesrat hielt schon in seiner Botschaft fest: «Der Flugzeugabschuss auf der Grundlage von Artikel 92a ist verfassungsrechtlich nur schwer zu begründen.» In der Schweiz kann ein Bundesgesetz vom Bundesgericht nicht auf seine Verfassungsmässigkeit überprüft werden. Das heisst indessen nicht, dass es deswegen verfassungskonform ist. Wird ein solches Gesetz später angewandt, ist es durchaus möglich, im Einzelfall durch Beschwerde zu überprüfen, ob es der Verfassung standhält. In letzter Instanz kann dazu auch der Menschengerichtshof in Strassburg angerufen werden, falls das Bundesgericht feststellen sollte, das Gesetz sei verfassungskonform.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass das Fehlen einer primären Verfassungskontrolle geeignet ist, dem Gesetz eine Legitimität zu verleihen, die sich auf die spätere Anwendung präjudizierend auswirken wird. Das demokratisch legitimierte Bundesgesetz steht nun schwarz auf weiss in der amtlichen Gesetzessammlung. Ein Abschussbefehl darf erteilt werden, und ein darauf fussender Abschuss wird für die Handelnden kaum zivil- und strafrechtliche Folgen haben. Denn was ein Gesetz anordnet, ist für Militärpersonen gemäss Amtspflicht verbindlich. Dass ein Gericht, besonderes ein Militärgericht, urteilen könnte, der Befehl sei unrechtmässig und hätte nicht ausgeführt werden dürfen, ist kaum anzunehmen. Die Rechtslage scheint klar zu sein.

Die Antwort des Schriftstellers

Es ist das Verdienst des Schriftstellers Ferdinand von Schirach, im Theaterstück «Terror» von 2016 auf diese Problematik – allerdings für die komplexere deutsche Rechtslage – aufmerksam gemacht zu haben. Der Autor lässt Schauspieler eine Gerichtsverhandlung mit brillanter Dialektik durchspielen und überlässt das Urteil über den Militärpiloten dem Publikum als «Geschworene».

Dabei ist es auffällig, dass kaum je ein Publikum mehrheitlich für eine Verurteilung des Piloten gestimmt hat, auch nicht in Basel, wo das Stück gegenwärtig gespielt wird. Das liegt weniger in der Anlage des Stücks, sondern entspricht vielmehr dem Zeitgeist. Der Gefährdung durch Terroristen soll kämpferisch entgegengetreten und die Tötung der Passagiere als das kleinere Übel dem sehr wahrscheinlichen Tod von ungleich viel mehr Menschen am Zielort am Boden vorgezogen werden. Die kurze Zeitspanne, welche die Todgeweihten im Flugzeug durch ihre staatliche Tötung verlieren, wird als eine Art Kollateralschaden abgebucht.

Gerade hier lauern Gefahren wegen der Auswirkungen derartigen Denkens auf andere Gebiete, wo Lebenszeit gegen Lebenszeit steht, wie zum Beispiel bei Organtransplantationen oder der Programmierung automatisch gelenkter Fahrzeuge. Soll das Fahrzeug durch Programmierung in eine Mauer gelenkt werden oder doch eher in einen Fussgänger, wenn der Bremsweg zu lang ist? Es besteht die Gefahr, dass der grundsätzliche Schutz des Lebens immer mehr einem utilitaristischen Denken weicht, das auf den grösseren Nutzen für die Gesellschaft abstellt und den individuellen Schutz des Lebens diesem unterordnet.

Es gibt im Theaterstück eine hervorragende Situation, welche den Angel- und Schmerzpunkt des Gerichtsverfahrens wie ein Blitzlicht erleuchtet. Nachdem der Pilot seinen befehlswidrigen Abschuss wortreich gerechtfertigt hat, schnappt die vom Autor gestellte dialektische Falle zu. Die Staatsanwältin fragt ihn: «Herr Koch, hätten Sie auch geschossen, wenn Ihre Frau und Ihr Sohn im Flugzeug gewesen wären?»

Diese Frage kann der Pilot nicht beantworten, weil jede Antwort falsch wäre, wie er bemerkt. Das ist höchst bedeutsam. Der Autor tritt darauf nicht näher ein, wohl mit Bedacht. Es ist der neuralgische Punkt, wo offenbar wird, dass Urteilen in Fällen derartiger Dilemmata eine Aporie, eine Unmöglichkeit, ein Widerspruch in sich selbst ist.

Jeder Rechtsstudent erfährt, dass es keine Kleinigkeit ist, ein gerechtes Urteil zu fällen, und dass die Gerechtigkeit sowohl auf Gesetzesstufe wie vor Gericht einer politischen Dynamik unterliegt. Das Abwägen zwischen dem Sicherheitsdenken der Gesellschaft und dem Schutz von Leben und Freiheit des Einzelnen neigt sich in Zeiten starker Gefährdungen einseitig dem Anspruch auf Sicherheit zu.

Unsere Sicherheit steht über der Freiheit des anderen. Aber wenn ein naher Angehöriger des Urteilenden betroffen ist, sieht plötzlich alles anders aus. Dabei wissen wir, dass ein gerechtes Urteil immer einen Perspektivenwechsel weg vom herrschenden Zeitgeist und hin zu den Bedürfnissen der Betroffenen erforderlich macht. Der Richter muss wie ein guter Vater oder Partner mit Empathie entscheiden. Ist er aber tatsächlich Vater oder Partner eines Betroffenen, so gilt er als befangen und sollte nicht urteilen.

Wird nicht gerade an dieser Stelle der unüberwindliche, «tote Punkt» des Richtens offenbar? Und damit zugleich die Wahrheit, die schon die alten Griechen wie Aischylos in seiner Tragödie der «Orestie» zum Ausdruck brachten: Der Richter entscheidet das Unentscheidbare?

Die Antwort des Offiziers

Als ich diesen Fragen nachhing und nachging, kontaktierte ich Oberst i Gst Peter Bruns, Chef der Operationszentrale der Luftwaffe und der Projektleiter zur Einführung der permanenten Luftpolizei (BaZ vom 16. November 2017). Ich wollte erfahren, wie die Luftwaffe einer solchen Gefahrensituation unter schweizerischer Lufthoheit begegnet. Im Verlauf des Gesprächs zeigte es sich, dass trotz der im Vergleich zu Deutschland konträren gesetzlichen Ausgangssituation im praktischen Ergebnis kaum Unterschiede auftreten sollten.

Peter Bruns ist wie die angerufenen deutschen Verfassungsrichter der Ansicht, dass – abgesehen von der verfassungsrechtlichen Problematik – tatsächliche Schwierigkeiten in der Gefahreneinschätzung einem Abschussbefehl entgegenstehen. In der äusserst kurzen Zeitspanne lässt sich kaum eine sichere Entscheidungsbasis erarbeiten, welche den Abschuss rechtfertigen könnte.

Mir gegenüber fasste Peter Bruns seine Haltung so zusammen: «Niemand wünscht sich, einen so schweren Entscheid treffen zu müssen. Wir hoffen, dass unsere hohe Einsatzbereitschaft verhindert, dass ein Anschlag von Terroristen überhaupt als für sie zielführend erachtet wird.»

Fazit: Solange verantwortungsvoll handelnde Personen einen Einsatzentscheid treffen, besteht in diesem hochgefährlichen Gebiet kein Grund zur Panik.

Peter Zihlmann ist Jurist und Publizist. Er lebt in Basel.