Richten als Gastspiel

Zu seinem 80. Geburtstag blickt Anwalt und Buchautor Peter Zihlmann auf seine Zeit als Richter zurück

Basler Zeitung, 28.05.2018
von Peter Zihlmann

Richten als Gastspiel Zu seinem 80. Geburtstag blickt Anwalt und Buchautor Peter Zihlmann auf seine Zeit als Richter zurück Von Peter Zihlmann Basel. Da sass ich nun im hohen klassizistischen Gerichtssaal unter Richtern am Basler Zivilgericht als Novize, frischgebackener Rechtsanwalt im Dienste eines Basler Chemiekonzerns. Auf Vorschlag der CVP – der ich nie angehörte – als Richter gewählt, eine kleine politische Heldentat der Partei und von Peter Schai. Mein Lebensziel war es, selbstständig praktizierender Advokat zu werden. 1965 gab es in Basel 52 Advokatenbüros, ich schrieb alle auf der mechanischen Schreibmaschine an. Alle sagten ab, aber antworteten. Erst viele Jahre später gelang mir der Einstieg.

Mein Engagement als Richter sollte ein Gastspiel sein, daraus wurden drei Jahrzehnte Tätigkeit in einem gehobenen Nebenberuf. Richter thronen über den Parteien und deren Anwälten. Diese sassen nun zu meinen Füssen, auch wenn sie aufstanden und plädierten, sah ich auf sie herab. Das bestimmte die Gerichtsarchitektur, die auch innen auf «Hohes Gericht» angelegt war. Ich spürte die Hochachtung der Parteien uns Richtern gegenüber. Sie forderten von uns Recht.

Hochachtung ist das einzig zulässige Geschenk der Parteien an Richter. Aber selbst das war mir eher peinlich. Mich gelüstete es nie nach Erhöhung oder auch nur danach, im Elfenbeinturm Regie zu führen. Ausserhalb des Scheidungsrechts ging es meist um Geld, um verwickelte Geschäfte, vertrackte Verträge und Schadensersatz. Juristischer Sachverstand und Kenntnis der Geschäftswelt waren gefragt. Als Ersatzrichter wurde ich dort gerufen, wo besonderer Sachverstand gefordert war und die Berufsrichter, die notorisch überlasteten «Präsidenten» nicht hinlangten.

Die Aktenberge wurden mir per Weibel geliefert und nach Studium abgeholt. Anspruchsvolle, mühsame Arbeit. Die Parteien sahen wir Richter kaum, nur kurz in der Verhandlung stumm und erwartungsvoll hinter ihren Anwälten sitzend und nach dem Urteil dankbar sich vor uns verneigend oder fluchtartig zum Saal hinausstürmend.

Nicht schwer, neutral zu sein

Es war wahrlich nicht schwierig, neutral zu sein. Die Binde der Justitia legt sich wie von selbst durch die Routine des Richters um seine Augen. Wenn man über eine Sachfrage urteilt, Gesetze und Verträge auslegt für Firmen oder Menschen, die man nicht näher kennt, ist es keine Kunst, neutral zu sein und den «Fall» emotionslos abzuhandeln.

Wir Richter sehen vielleicht ähnlich wie ein Chirurg nur das Operationsfeld, kaum den ganzen Menschen, dem das kranke Organ gehört. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir Richter es sind und nicht vorab die Natur, die darüber entscheiden, was Karzinom oder gesundes Gewebe ist, was Recht und was als Unrecht herauszuschneiden ist.

Unser Recht ist komplex und dadurch auch flexibel, berücksichtigt widersprüchliche Interessen und lässt schon durch die schiere Flut von anwendbaren Bestimmungen verschiedene Lösungen im Einzelfall zu. Immer wieder habe ich mich als Richter dabei ertappt, wie ein bestimmter Aspekt des Rechtsfalls ein Bild in mir wachrief, das ich schützen oder verdrängen wollte. Den Mann von der Strasse im Streit mit einem übermächtigen Konzern verstand ich. Dem allzu wortgewaltigen Redner vor Gericht misstraute ich vielleicht mehr, als er es verdiente.

In einem Streit der Pflichtteilserben um eine Riesenerbschaft, welche der Erblasser in einer Anstalt liechtensteinischen Rechts versteckt hatte, wuchs die Mehrheit der Gerichtskammer über sich hinaus und erklärte das Gebilde für nichtig. Anderntags erschien in der Basler Zeitung ein Artikel unter dem Titel «Es gibt noch Richter in Basel!». Unser Richterstolz war von kurzer Dauer. Das Appellationsgericht kassierte unser Urteil als willkürlich. Dabei war es unser Stolz, dem Rechtsmissbrauch einen Riegel vorgeschoben zu haben. Aber unser Entscheid kam eine Generation zu früh. Heute würde die Nichtigerklärung zum courant normal im juristischen Betrieb gehören.

Der Fall des Exhibitionisten

Zu meiner grössten Herausforderung wurde meine Berufung zum ausserordentlichen Zivilgerichtspräsidenten, um während 20 Jahren als Mietrichter zu amten. Ich bekam die Kompetenz, Mietverträge gegen den Willen der Vermieter um bis zu maximal sechs Jahre zu verlängern und Mietzinse auf Missbräuchlichkeit zu überprüfen und herabzusetzen. Das ist keine Kleinigkeit. Ich hatte mich auf ein politisch umstrittenes Rechtsinstitut einzulassen.

Wirklichen Durchblick auf diesem Gebiet, das nicht attraktiv war, hatten in der ganzen Schweiz vielleicht ein gutes Dutzend Spezialisten. Professoren machten damals einen Bogen um das Mietrecht, das bis 1990 Ausnahmerecht war. Zudem war etwas Finanzmathematik erforderlich, um die Investitions-, Amortisations- und Renditeberechnungen wirklich zu verstehen.

Nach einem Jahrzehnt war ich als Mietrechtler schweizweit anerkannt, nachdem ich zum revidierten Mietrecht einen Leitfaden und den Beobachter-Ratgeber verfasst hatte. Zunächst jedoch wurde ich von meinem Amtsvorgänger in die Praxis eingeführt. Dieser hatte alle zehn Minuten einen Fall auf seinem Programm, nach zwei Stunden war er meist eine Stunde im Rückstand und um 13 Uhr war er dann mit dem Programm durch. Als Erstes verdoppelte ich die Verhandlungszeit und später nochmals.

Wir Richter sehen wie ein Chirurg nur das Operationsfeld,
kaum den ganzen Menschen.

Mein früherer Berufspartner Stefan Suter wurde schon als Gerichtsvolontär auf mich als Richter aufmerksam. Unlängst fragte ich ihn, was denn bei mir anders war als bei den regulären Berufsrichtern. Die Herangehensweise sei es gewesen. Ich hätte die Parteien ausreden lassen und sie nicht durch das übliche «Zur Sache bitte!» unterbrochen und sie auch nicht von oben herab behandelt. Das hätte ihn beeindruckt. Daraus entwickelte sich eine berufliche und schliesslich über die Jahrzehnte eine persönliche Verbundenheit zwischen uns.

Er erinnert sich noch heute an einen bestimmten Fall: Ein Mieter war einer Nachbarin als Exhibitionist aufgefallen und sie hatte den Mann bei der Verwaltung verklagt. Diese kündigte dem Mieter. Er schämte sich vor Gericht und war als Familienvater in schwieriger Situation. Ich sei vorurteilsfrei an den Fall herangetreten und hätte die Situation analysiert und gefragt, ob und inwiefern das Mietverhältnis durch die Entgleisung unwiderruflich gestört sei. Es hätte sich herausgestellt, dass das überhaupt nicht der Fall war. Die Verwalterin zog die Kündigung zurück, als sie sah, wie folgenschwer die Kündigung für die ganze Familie war.

Ein anderer Fall ist mir in Erinnerung geblieben. Vor Gericht stand eine Türkin, Mutter einer sechsköpfigen Familie, Mieterin im dritten Stock in einem ruhigen Wohnquartier. Eine Flut von Klagen der Mitmieter übergoss sich über sie. Sie bestritt diese vehement.

Mutter mit Suiziddrohung

Ich zitierte sechs Zeugen vor Gericht. Die zweite Verhandlung wurde für die Familie zum Fiasko. Laut weinend verliess die Mutter den Verhandlungssaal. Als sie zurückkam, eröffnete ich ihr, dass ich ihre Erstreckungsklage abweisen müsse. Sie verwarf die Arme und schluchzte. Sie hatte Zwillinge im Vorschulalter. Ich verwies sie auf das Notwohnungsprogramm der Stadt.

Sie wurde heftig: «Ich mach es so!», sagte sie und machte die Geste einer Mutter, die zwei Kinder zu sich heranreisst, wies dann mit ihrer Hand auf den Boden vor ihr und schrie: «Ich stürze mich mit beiden Kindern vom Balkon.» Ich war ergriffen, wusste nicht weiter. Ich starrte auf die Basler Zeitung, die neben den Akten vor mir lag, und notierte darauf intuitiv meine Telefonnummer und übergab ihr den Ausriss und sagte: «Vorher sollten Sie mich aber doch noch anrufen!» Einen Moment wurde sie ruhig und ich schloss die Verhandlung. Einige Tage später fragte sie mich, ob sie mich als Referenz angeben dürfe, sie hätte eine Wohnung in Aussicht. Mit schlechtem Gewissen stimmte ich zu. Was sollte ich im Falle einer Anfrage nur sagen? Das war eine skurrile Situation.

Ich erhielt jedoch als Nächstes den erfreuten Anruf der Türkin, sie hätten die Wohnung bekommen und sie würde meine Familie gerne zum Beschneidungsfest ihrer Zwillinge einladen. Es war ein Riesenfest, das auch meine Kinder beeindruckte. Sagte doch schon Friedrich Dürrenmatt: «Ein Gran Mitmenschlichkeit kann bisweilen Tonnen an Gerechtigkeit ersparen.» Aber ganz koscher war mein Verhalten nicht. Trotzdem denke ich gerne an die Episode.

Dem wortgewaltigen Redner misstraute ich
vielleicht mehr, als er es verdiente.

Mit Genugtuung stellte ich fest, dass meine Urteile als Mietrichter von der Beschwerdeinstanz fast ausnahmslos gestützt wurden. Ich versuchte gewiss auch einen mittleren Kurs zu fahren, nicht zu stark links, aber gewiss nicht rechts. Zudem war die Überprüfung der Mietzinsen im Gesetz ein widersprüchliches Gemisch mit Elementen der Kosten wie auch der Marktmiete, gepaart mit beweismässigen Klippen, Formularen und Formalitäten. Es schien mir nicht verantwortbar, auf einer der auseinanderstrebenden Linien bis zu den extremen Endstationen zu fahren.

Prägendes Erlebnis als Mieter

Meine Anerkennung auf diesem Gebiet hing gewiss auch damit zusammen, dass ich als Richter Teil des Gerichtssystems war. Sie war weniger Ausdruck meiner besonderen Begabung oder gar jener magischen Unfehlbarkeit, an der hohe Richter teilnehmen. Aber der Perspektivenwechsel erlaubte mir, meine Tätigkeit als Rechtsanwalt wie in einem Spiegel zu sehen und zu begreifen, dass für Richter die Rechtsuchenden bisweilen wie sich bekriegende Zwerge wirken mussten.

Mit schweren Schicksalen konfrontiert. Peter Zihlmann wirkte 20 Jahre lang als Basler Mietgerichtspräsident. Foto D. Plüss
Mit schweren Schicksalen konfrontiert. Peter Zihlmann wirkte 20 Jahre lang als Basler Mietgerichtspräsident.
Foto D. Plüss

Mein Bild als Mietrichter wäre nicht aufrichtig, wenn ich ein prägendes Ereignis verschweigen würde, das meiner Wahl einige Jahre vorausgegangen war. Anfang der 60er-Jahre, Wohnungen waren knapp, hatte ich eine 2-Zimmer-Wohnung gefunden und konnte also heiraten. Es war nur möglich ab Mai zu mieten, obwohl ich erst im Juli einziehen konnte. Als dann im Juli die Wohnung noch nicht bezugsbereit war, erlaubte ich mir, für den Juli den halben Mietzins zu überweisen. Zurück kam vom Vermieter ein geharnischter Brief mit Kündigungsdrohung, falls ich nicht umgehend 152.50 Franken überweisen würde. Angstvoll schwang ich mich auf mein Rad und zahlte.

Es gab damals praktisch keinen Mieterschutz. Eine Kündigung wäre für uns beide einer finanziellen Katastrophe gleichgekommen. Mein Recht opferte ich auf dem Altar des Vermieters. Später hörte ich als Mietrichter viele Vermieter klagen, der Mieterschutz sei überflüssig, weil sie nur aus guten Gründen künden würden. Ich nickte zu solchen Beteuerungen und spürte meine damalige Angst, die sich nun in Verständnis für verängstigte Mietende verwandelte. Das zähle ich nicht zu meinen Vorurteilen, sondern zu den Früchten meiner Lebenserfahrung. Sie kamen vielen Mietern zugute.

Peter Zihlmann (geb. 29. Mai 1938 in Basel) war als Rechtsanwalt, Notar und nebenamtlicher Richter in Basel tätig. Sein Spezialgebiet waren Strafverteidigungen. Von 1980–2000 amtete er als ausserordentlicher Mietgerichtspräsident. Zihlmann schrieb eine Reihe viel beachteter Bücher, darunter über Börsenguru Dieter Behring oder über Guido A. Zäch, Gründer und einstiger Chefarzt des Paraplegiker-Zentrums Nottwil.