Die Mama von Angelo

Zihlmanns Fälle, www.netzpress.ch Fall 04/2002

Zihlmann’s Fälle basieren auf wahren Begebenheiten.
Namen und persönliche Daten sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden Personen ist rein zufällig.

Die Mutter, die mich um Rat fragt für und wegen ihrem Sohn, tut dies, weil Angelo krank ist und sich nicht helfen kann. Und sie kann ihm auch nicht helfen, die Ärzte können es auch nicht. Ihm kann niemand helfen. Er ist jetzt 33 Jahre alt. Er spricht mit niemandem. Das geht schon seit Jahren so. Er hat keinen Freund. Den ganzen Tag schläft er. Nachts malt er in seinem Studio. Die Mutter bezahlt das. Und auch die Diätkost. Er bekommt IV. Die Ärzte sagen, er sei schizophren. Aber der Professor sagt, er sei es nicht. Er kommt rein in die Klinik, er kommt raus aus der Klinik. Und immer ist es schrecklich und zwanghaft. So gewalttätig, wie sie ihn holen, setzen sie ihn wieder vor die Türe, ohne medizinische Betreuung danach. Dann muss sich die Mutter wieder um alles kümmern und alles zahlen. Und niemand von den Ärzten hilft ihr. Die verwalten Ihren Angelo mit Medikamenten, Psychopharmaka, solange er dort bei ihnen in der Klinik ist, nachher ist der Fall und der Patient für sie gestorben. Die Pfleger sind froh, wenn er wieder weg geht. Sie haben Angelo vor die Türe gesetzt und alles mit ihm war schlimmer als sechs Wochen vorher als sie ihn zu Hause geholt haben, weil er herumgeschrieen hatte. Nachbarn hatten die Polizei avisiert. Früher einmal hatte sie selbst einer Schwester vom Externen Psychiatrischen Dienst telefoniert mit der sie ein Vertrauensverhältnis hatte. Als Angelo so unansprechbar und unruhig war, fragte sie die Schwester am Telefon um Rat. Aber dann hat die Schwester anstatt zu raten eine junge Ärztin bei ihr zu Hause vorbeigeschickt. Die hat mit Angelo kaum gesprochen und den Einweisungsschein für die Zwangspsychiatrie ausgestellt. Sofort kamen die zwei Pfleger, richtige Kassenschränke, und haben den grazilen Angelo, der keine 50 kg wiegt, wie ein Paket vor den Augen der staunenden Nachbarn und Passanten weggetragen. Jetzt versucht es die Mutter mit mir. Sie habe mich am Fernsehen gesehen als ich mich für jemanden engagiert habe, erklärt sie mir. Ob ich mit Angelo sprechen wolle, fragt sie.

Will Ihr Sohn das auch?

Ich glaube schon. Er weiss, dass ich hier bin.

Hat er denn mit gar niemandem Kontakt?

Nein, nur zu seinem alten Kinderarzt Dr. Bottonelli. Ein ganz feiner Mann. Zu ihm hat er Vertrauen. Der einzige Mensch, mit dem er verkehrt und mit dem er auch ausgeht.

Ihr Sohn wohnt noch immer bei Ihnen?

Ja.

Wieso?

Er braucht jemanden, der für ihn kocht, für ihn sorgt. Er kann nicht allein für sich sorgen. Er braucht teure Diät-Nahrung. Ich kann das kaum zahlen. Ich bin Witwe mit einer ganz kleinen Rente.
Ich bin mit einem Kunstmaler befreundet. Vielleicht kann er einmal die Bilder Ihres Sohnes ansehen.

Angelo malte früher sehr schöne Bilder. Jetzt haben die Medikamente und die Klinik alles in ihm kaputt gemacht. Es wäre wunderbar, wenn ihr Freund einmal die Bilder anschauen käme.

Hat ihr Sohn nie eine Freundin gehabt?

Doch, aber die hat nicht gemacht, was er wollte. Die war sehr schwierig. Sie hat selber Probleme. Wenn es ihm schlecht gegangen ist, ist sie einfach nicht mehr gekommen. Sie kommt nur noch ganz selten.

Ich habe der Mutter versprochen mit Angelo zu sprechen. Und ich habe mit ihm in seiner Wohnung gesprochen. Mit einem gehetzten Menschen, der nicht ruhig sitzen konnte. Ein richtiges Gespräch war das nicht. Ein Frage-Antwort-Spiel, ein Versteckspiel vielleicht. Ich habe keine Ahnung, was zu tun ist. Die Mutter verlangt, dass etwas geschieht, weil es so nicht weitergehen könne. Sie will auch nicht, dass etwas ändert, namentlich will sie nicht, dass ihr Angelo wieder mit Zwang von zu Hause abgeholt und in die Klinik gebracht wird. Angelo will, dass alles so bleibt, wie es ist. Er werde später wieder auf seinem Beruf, als Verkäufer arbeiten. Aber jetzt sei das nicht möglich, psychisch nicht möglich.

Einige Wochen später überquellen die Zeitungen mit überfetten Schlagzeilen: Kinderarzt Dr. C. wegen sexueller Ausbeutung Drogensüchtiger in Untersuchungshaft. Zusammenhänge mit dem sogenannten „Tierkreis“ werden ausgelotet. Wer war das Krokodil, wer der Elefant? War der Kinderarzt der schrecklich-schillernde achtarmige Octopus? Ich erkenne, dass das Dr. Bottonelli sein muss, Angelos Freund und einstiger Kinderarzt. Ich rufe dann nach einigem Zögern doch die Mutter an: Haben Sie den Sonntagsblick gelesen?

Ja, die Zeitung lag zu Hause auf dem Tisch und ich habe Angelo darauf angesprochen. – Aber da ist nichts.

Ihr Sohn nimmt keine Drogen?

Niemals. Ja, früher hat er vielleicht hin und wieder ein joint geraucht.

Viele Wochen später ruft Mama Angelo wieder an: Angelo ist wieder in der Klinik. Sie haben ihn geholt. Es ist schrecklich. Er ist in einem 4er-Zimmer mit drei Geisteskranken. Er hält es dort unter Verrückten nicht aus. Er leidet so unter dem Rauch und sie können das Fenster nicht selbst öffnen. Als ich ihn besucht habe, stürmte ein Pfleger in den Gang, schrie mich an: ER ODER ICH. EINER VON BEIDEN MUSS GEHEN. ICH HALT ES NICHT MEHR AUS. Sie wollen meinen Sohn nicht mehr. Er ist dort sehr unglücklich.

Einige Tage später ruft die Mutter mich wieder an: Jetzt haben sie Angelo rausgeschmissen. Es ist unglaublich. Ohne Medikamente. Können sie das? Dürfen die das? Ihn einfach so auf die Strasse stellen?

Die haben grosse Macht. Ich glaube schon, dass die das können. Angelo ist ja schwierig. Wo ist er jetzt?

Bei mir.

Was macht er?

Er hat sich eingeschlossen. Er spricht nicht mehr. Ich höre ihn nur nachts im Zimmer auf und ab gehen.

Sind Sie in ärztlicher Behandlung?

Wer? Ich? Nein, wieso? Ich muss doch für meinen Angelo da sein. Kann ich bei Ihnen vorbeikommen?

Wieso?

Um die Situation zu besprechen.

Ja, kommen Sie.