Ex-Richter zweifelt an der Justiz

Basler Zeitung, 11. Juni 2002

Umfassende Kritik an der Justiz, gestützt auf seine Erfahrungen als baselstädtischer Anwalt und Richter, äussert Peter Zihlmann in seinem Buch «Macht Strafe Sinn?». Er zieht radikale Folgerungen.

Peter Zihlmann wirkte im Kanton Basel-Stadt als Anwalt und Notar. Ab 1971 war er Zivil-Ersatzrichter, von 1979 bis 1999 Mietrichter. Als wichtiges Fazit seiner Erfahrungen äussert er in seinem Buch: «Wir machen das Gefängnis zum Ab-Ort. Das erklärt auch die unüberwindliche Schranke zwischen uns und den vor den Schranken des Gerichts Stehenden; das ist der Grund, wieso der Angeklagte und der Beobachter sich immer fremd bleiben. Es trennt sie Verständnislosigkeit und Fremdheit.»

Ernst zu nehmen ist vor allem die im Buch wiedergegebene Erfahrung: «Der Verbrecher, der Schuld auf sich geladen hat und in einem öffentlichen Prozess verurteilt worden ist, trägt meistens auch ohne Freiheitsentzug schwer an der damit verbundenen Schmach. Viele habe ich erlebt, die nachher krank wurden, verunfallten oder sich aufgaben und in den Tod flüchteten.» Diese Aussage deckt sich mit vielfältigen literarischen Zeugnissen aus dem Strafvollzug (vgl. hierzu BaZ vom 3. Mai 2001 zu Beatrice Blazek, Richie Meiler: «Schliesser und Eingeschlossene», Rotpunkt-Verlag 2001). Die Strafen würden auch den Bedürfnissen der Opfer nach realer Genugtuung nicht gerecht, folgert Peter Zihlmann weiter. Der Justiz-Graben sei heute noch im Wachsen. Eskalierend seien Tendenzen von Nulltoleranz, bedingt durch wachsende Kriminalitätsangst, und von Vielstraferei. Die Justiz erweise sich als anfällig für Einflüsse öffentlicher Stimmungslagen. Unter Druck kämen rechtsstaatliche Gebote wie das Urteil im Zweifelsfalle zu Gunsten des Angeklagten.
Radikal sind die Folgerungen des Autors: Die Freiheitsstrafe müsse schrittweise völlig überwunden werden, stellt er fest. Die Strafrechtspflege sei umzuwandeln in ein verbindliches System von Ausgleichsverfahren in Form von Wahrheits- und Ausgleichsprozesse mit Entschädigungs- und Genugtuungspflichten, gemeinnütziger Arbeit, in beschränktem Umfange auch mit elektronischen Fussfesseln.
Die ersten Schritte in dieser Richtung entsprechen dabei den Tendenzen von notwendiger Strafrechtsreform. Bereits eingeführt sind Möglichkeiten des Ableistens von Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten und von Bussen durch gemeinnützige Arbeit, wie auch der Autor feststellt. Mit der bevorstehenden Revision des Strafgesetzbuches sollen die kurzen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten weitgehend ersetzt werden durch alternative Strafformen. Noch offen ist leider, ob die Möglichkeit des bedingten Strafvollzugs von 18 auf 36 oder nur 24 Monate Freiheitsstrafe ausgeweitet wird. Zu Recht kritisiert der Autor die vorgesehenen weitreichenden Möglichkeiten der zeitlich unbefristeten Verwahrung über den kleinen Kreis wirklich gemeingefährlicher Straftäter hinaus.
Hinter den Befunden der «Vielstraferei» hätten weitere Analysen erwartet werden müssen. Da gibt es sicherlich gefährliche Tendenzen von Abwehr gegen Menschen in oft sehr harten randständigen Lebenssituationen. Andererseits sind Normen zu Korruptionsbekämpfung und Geldwäscherei gerade im Interesse der globalen Armutsbekämpfung unerlässlich. Eine Vielfalt von Normen, zum Beispiel Gen-Lex, dient der Abwehr von Gefahrenpotenzialen der technologischen Entwicklung. Da bilden vielfältige Strafnormen die letzte Absicherung von unerlässlichen technologischen Sicherheitsstandards.

Jürg Meyer

Peter Zihlmann: «Macht Strafe Sinn?», Basel/Genf 2002, 263 Seiten, 42 Franken.