Basler Polizist nach Todesschüssen in Colmar angeklagt

Es handelt sich um einen Exzess, begangen im Jagdfieber

Aus Basler Zeitung 06.02.2004

BaZ: Herr Zihlmann, Ist ein derartiger Prozess wie jetzt in Colmar gegen einen Polizisten etwas Ungewöhnliches?

Peter Zihlmann: Das gibt es über die Jahre immer wieder. Es ist ein hoch sensibler Bereich in dem Sinn, dass die Folgen sehr schlimm sind. Andererseits ist es natürlich staatliche Gewalt – Gewaltausübung als Amtspflicht. Der Spielraum für Kritik am Einsatz der Mittel ist auf diesem Sektor relativ klein. Es besteht in jedem Staat ein Pakt zwischen der Polizei und der Justiz und im gewissen Sinn mit der gesamten Gesellschaft: Das heisst, die Gewaltausübung wird nicht allzu stark in Frage gestellt, solange sie in amtlichen Bezug fällt. Es wird also in solchen Fällen oft zu Verfahrenseinstellungen kommen. So war das auch bei dem Fall im Schwarzwaldtunnel in Basel am 27. Dezember 2000 als Polizisten einen 18-Jährigen auf der Flucht erschossen. Da wurde das Verfahren eingestellt, und es kam gar nicht zu einem Prozess. Es ist eine Tendenz vorhanden, diese Fälle der Justiz nicht zu unterbreiten, weil sie bei der Polizei als Unfälle erlebt werden.

Kann man sagen, dass der Basler Polizist, der den Autodieb erschossen hat, Pech hatte, dass dies auf der anderen Seite der Grenze passierte?

Er hatte in dem Sinn Pech, dass der Pakt, von dem ich gesprochen habe, an der Staatsgrenze aufgebrochen wird. Er wird formaljuristisch aufgebrochen, da die Rechtfertigungsbasis schmaler wird. Grundsätzlich ist die Fluchtverhinderung nach schwerer Tat durch Schussabgabe auf die Beine ebenso wie die Notwehr gerechtfertigt. Was hier noch reinspielen könnte, ist die Notstandshilfe, falls der Kollege des Schützen in einer Notsituation war. Die «Nacheile» der Polizisten ist zwar staatsvertraglich gerechtfertigt, nicht aber die Schussabgabe. Wenn man den speziellen Fall ansieht, muss man auch klar erkennen, dass eine Rechtfertigung nicht möglich ist, da ein Autodieb nicht als Schwerverbrecher gilt, auf den man schiessen darf, wenn er flüchtet. Die Frage der Notwehr wird von Frankreich sicher ähnlich behandelt wie von der Schweiz. Wo aber doch eine ganz grosse Abweichung besteht, das ist im Zugang der Justiz zum ganzen Geschehen. In der Schweiz wäre der Fall möglicherweise eingestellt worden. Im eigenen Land hat man für die Schwierigkeiten des Polizisten sehr viel Verständnis. Ich habe in meinem letzten Buch geschrieben: «Ein Prozess gegen den Staat und seine Funktionäre wegen ihrer Fehler, die sie im Amt begangen haben, ist die härteste Nagelprobe für den Rechtsstaat.»

Und beim Prozess in Colmar?

Da ist der Standpunkt der Justiz ein ganz anderer, und es wird wieder die Sichtweise geändert: Man sieht, ein Mensch wird erschossen, ein Ausländer schiesst auf einen wehrlosen Menschen, und es ist auch das Eindringen einer fremden Staatsmacht spürbar; da ist der Zugang zum Drama für den Polizisten sicher negativ.

Wird es eine Rolle spielen, dass es sich um ein Geschworenengericht handelt?

Jeder Strafprozess hat eine starke politische Dimension, sobald er von öffentlichem Interesse ist. Sobald es sich um Polizeigewalt handelt, ist das hochsensibel. Die Franzosen werden in ihrem Urteil sicher auch die politisch-diplomatischen Auswirkungen in Betracht ziehen. Daher glaube ich, dass die Prozesschancen des Polizisten durchaus vorhanden sind. Obgleich ich eigentlich nicht wüsste, wie man hier eine Notwehrsituation konstruieren kann. Die ganze Sache hat offensichtlich einen psychologischen Aspekt, denn es handelt sich in klarer Weise um einen Exzess, begangen im Jagdfieber. Um diesen Begriff wird kein Betrachter herumkommen, der das unvoreingenommen ansieht. Es fielen 19 Schüsse. Der Todesschütze hat praktisch das Magazin von dreizehn Schüssen geleert, hat von hinten geschossen, bis das Auto fünf Meter entfernt war. Das Opfer war unbewaffnet. Das ist keine Notwehr, höchstens ein Notwehrexzess.

Wird der schlechte Leumund des Opfers, der öfter Autos gestohlen hat, eine Rolle spielen im Prozess?

Das ist schon ein Aspekt, und es besteht zudem die Tendenz, dass man auch in der Schweiz immer öfter sagt: Wir müssen den Polizisten einen Freiraum geben, denn sonst können sie uns nicht mehr schützen. Die müssen schiessen, und wer da nicht gut tut, der muss damit rechnen, dass er erschossen wird. Wir wollen das natürlich nicht. Das ist schlimm, und wir verhindern das in Zukunft. Aber im Prinzip toleriert das unsere Gesellschaft. Das ist auch daran erkennbar, dass bei der kleinen Zahl von Freigesprochenen der grösste Teil in amtlicher Stellung tätig war. So war das auch bei den Polizisten, die 1983 in Zürich einen drogenabhängigen jugendlichen Autodieb durch Kopfschuss «erlegten». Es erfolgte Freispruch.

Interview Peter Schenk