SMILE, Schweizer Magazin über Internet, #5 / 2001
Jetzt sind fast alle Urteile des Bundesgerichts via Internet zugänglich. Die Öffentlichkeit kann zudem erfahren, welche Richterinnen und Richter an einem Entscheid mitgewirkt haben.
Auf der Internetseite www.bger.ch wird dem Publikum in Zukunft nahezu die komplette aktuelle Rechtsprechung des höchsten Schweizer Gerichts zur Verfügung stehen. Allerdings wird nicht jedes Urteil seit Gründung des Bundesgerichts im Jahre 1874 veröffentlicht.
Von den in der amtlichen Sammlung publizierten Entscheiden werden nur diejenigen nach 1954 erfasst. Und die zahlreichen, bisher unveröffentlichten Urteile können übers Netz nur eingesehen werden, wenn sie nach dein 1. Januar 2000 gefüllt worden sind. Selbst dort wird es aber noch Ausnahmen geben.
Gemäss Jacques Bühler, stellvertretender Generalsekretär des Bundesgerichts, soll nämlich die Öffentlichkeit nicht mit unnötigen Informationen überschwemmt werden. Urteile, an denen absolut kein Interesse bestehe, sollen deshalb nicht veröffentlicht werden.
Dazu würden etwa Entscheide über offensichtlich unbegründete Beschwerden zählen oder Fälle, wo der Kostenvorschuss nicht bezahlt worden sei, meinte Jacques Bühler. In seltenen Ausnahmefällen könne es auch vorkommen, dass Urteile aus Rücksicht auf den Persönlichkeitsschutz nicht veröffentlicht würden.
Die Sorge um den Schutz. der Privatsphäre wird auch bei der Publikation der übrigen Entscheide omnipräsent bleiben. Keiner der jüngeren Entscheide wird über den Bildschirm flimmern, bevor aus dem Urteilstext nicht die Parteinamen und entsprechende Hinweise getilgt worden sind.
Wie seit Jahrtausenden stehen auch heute Menschen vor Gericht und erzählen dem Richter ihre Geschichte. Der Richter mit Erfahrung speichert in seinem Gehirn zum Streitfall aus seinem privaten Erfahrungsschatz einige (wenige) Fälle, die ihm «einfallen». Aus seiner schwer zugänglichen juristischen Bibliothek, gestützt durch im Internet gespeicherte Urteile, holt er zusätzliche Urteile heran und verleibt sie seinem Gedächtnis ein und fabriziert danach, moduliert durch sein Gerechtigkeitsgefühl und seine politische Einstellung das Urteil.
Schon morgen wird aus allen Urteilen, die in der Schweiz und anderswo in den letzten Jahrzehnten gefällt worden sind, eine umfassende Rechtsdatenbank bestehen. Die Urteile, verbunden mit den ihnen vorangegangenen Streit-Geschichten bilden ein wertvolles Reservoir an Regeln und Erkenntnissen für die Lösung menschlicher Konflikte. Ein intelligentes Ablage-, Speicher- und Suchsystem vergegenwärtigt, kombiniert und verarbeitet Millionen und Abermillionen von Geschichten und daran geknüpfte juristische Urteile. Auch die übernationalen Gerichtsentscheide sind in der Rechtsdatenbank als übergeordnetes Recht abgesichert und werden vom elektronischen Gericht berücksichtigt. Jede Streitpartei, eine private wie eine staatliche, kann schon morgen den Text ihrer Fallgeschichte zuhanden des richtenden Superhirns eingeben. Ohne äussere Beeinflussungsmöglichkeiten sucht das Superhirn in der Datenbank nach passenden Geschichten und Urteilen: der elektronische Richter verkündet sekundenschnell sein Urteil. Bevor eine neue Streitgeschichte dem Superhirn eingespiesen wird, prüft ein Angestellter des Internet-Gerichts, wo die Streit-Geschichten voneinander abweichen. Ergibt jener Textvariante den Vorzug, welche bewiesen ist, ausser es bestehe keine Beweispflicht (wie z.B. für die Unschuld, Handlungsfähigkeit und ähnliches). Was nicht nachgewiesen werden kann, wird weggelassen. Eventuell ergeben sich nach der Eingabe in die Rechtsdatenbank Unklarheiten und Rückfragen, die von den Parteien zu beantworten sind. Sekunden später ergeht das Urteil. Nach einem kurzen kontradiktorischen Bereinigungsverfahren über mögliche Irrtümer erwächst das Urteil in Rechtskraft.
Ist uns diese Vision sympathisch? Wenn nein, wieso nicht? Wollen wir lieber einem menschlichen Richter und seiner Unzuverlässigkeit und seinem unvollständigen Gedächtnis und seinem persönlichen Gefühl (und seiner Voreingenommenheit) unterworfen sein? Und wenn ja, wieso? Ist es richtig, dass der menschliche Richter in seinem Urteilen immer menschlicher ist als das Urteil aus dem Internet-Gericht?