Für eine wirksame Justizkritik

Plädoyer #4/2001 (10.08.2001)

Die heutige Justizkritik ist ohne Biss und wirkungslos. Wo es sie überhaupt gibt, verharrt sie im rein Sachlichen. Damit akzeptiert die Kritik grundsätzlich den Standpunkt der Justiz. Und das ist verhängnisvoll.

Wer die Justiz wirkungsvoll kritisieren will, muss zuerst gewisse Vorurteile klären, die in der Öffentlichkeit, aber auch in der Fachwelt den Blick auf die Realität verstellen. Deshalb seien vorab drei eingefleischte Vorurteile analysiert.

1. Vorurteil: Vor dem Strafrichter stehen ausschliesslich Kriminelle, nie anständige Menschen.

Dieses Vorurteil führt dazu, dass Bürger sich vom Angeklagten distanzieren und diesen ausgrenzen. Strafverteidigung wird als Verteidigung des Kriminellen gegen die Gesellschaft und somit als illegitim empfunden. Damit bleibt im Dunkeln, dass nicht das begangene Unrecht, sondern allem voran politische Konstellationen, einflussreiche Feinde und Abrechnungen den Schwächeren vor den Strafrichter führen. Das Vergehen des Angeklagten vor Gericht besteht meist darin, den Versuch gewagt zu haben, es im Geschäftlichen oder Gesellschaftlichen den Grossen gleichzutun.

Der Angeklagte vor Gericht ist verloren. Wenn er vor Gericht erscheint, so ist das nicht der Anfang, sondern der Endpunkt des gesellschaftlichen Ausschlussprozesses. Deshalb beginnt auch die Strafverfolgung mit der Vorwegnahme der Exekution des Urteils, durch Untersuchungshaft, Hausdurchsuchung, Betriebsschliessung, Beschlagnahme bis hin zur medialen Vorverurteilung. Die Wirtschaftsstraffälle Plumey und Rey illustrieren das.

Man mag sich wundern, wieso Freisprüche die Ausnahme sind, welche die Regel der Verurteilung bestätigen. Es gehört zum Wesen des Strafgerichts, Strafe auszusprechen. Das hängt auch mit dem Hang des Menschen zusammen, sein Amt möglichst auszubauen. Davor sind auch Richter nicht gefeit.

2. Vorurteil: Jede Art von Kriminalität kann vor dem Strafrichter erscheinen.

Dieses Vorurteil führt dazu, dass die Gründe für das Ungenügen der Justiz bei der Dunkelziffer und Personalknappheit der Strafverfolgungsbehörden gesucht werden. Das viel grössere gesellschaftliche Unrechtspotenzial wird nicht erkannt: Ausbeutung, Unterdrückung und Instrumentalisierung von Mitmenschen sowie die Ungerechtigkeiten durch staatliche Institutionen und normale gesellschaftliche Abläufe. Es sind dies die «selbstverständlichen Verbrechen». Die vom Staat selbst organisierten Verbrechen bleiben im Windschatten des Justizbetriebes verborgen, ebenso wenn ein Staat seine Feinde vernichtet oder von den Schalthebeln der Macht fernhält oder ausschaltet, wenn Genozid in irgendeiner Erscheinungsform begangen wird.

3. Vorurteil: Das Gericht sucht die Wahrheit.

Der Prozess, der zu den Urteilen der Justiz führt, ist keine Wahrheitssuche im naturwissenschaftlichen Sinn. Der juristische Prozess hat den Zweck, das Verbrechen zu bekämpfen. Diese politische Funktion dominiert die Richtung der Ermittlungen. Die Justiz ist geneigt, die Wahrheitssuche dem Zweck der Verbrechensbekämpfung unterzuordnen und vom Weg der Wahrheitssuche abzuweichen, Urteile gegen jede wissenschaftliche Sorgfalt und kritische Haltung zu fällen, nur um etwas Sichtbares gegen das Böse unternehmen zu können. Das konnte zum Beispiel im ersten Prozess gegen Bruno Zwahlen beobachtet werden.

Die Gesellschaft erkennt nicht, dass die vom Gericht verfügte Wahrheit ein oft durch Trick, Tücke und Lüge erzeugtes Konstrukt ist. Die Gesellschaft hat einen übertriebenen Glauben an obrigkeitliche Wahrheitsverfügungen. Es wird daher nicht wahrgenommen, dass die Engführung des Prozesses auf die Schuldfrage und der Ablauf gemäss Anklageschrift eine verhängnisvolle Voreingenommenheit darstellen. Der Ankläger diktiert das Kampffeld und entscheidet damit den Ausgang des Prozesses. Die Verteidigung und deren Beweisanträge stören den Richter, der sich nach der Anklageschrift ausrichtet, und lenken ihn vom Thema ab.

Wozu Justizkritik?

Die Justiz als Teil des staatlichen Zwangsapparates entwickelt sich leicht zum Disziplinierungsmittel von Randständigen und Minderheiten. Daher bedarf die Justiz der Kritik. «Sachliche Kritik» genügt nicht, weil sie grundsätzlich den Standpunkt der Justiz akzeptiert. Justizkritik darf nicht im rein Juristischen verharren, sie ist fächerübergreifend und «verquer» zum Fakultätsdenken. Sie sucht Verbindung mit jener inneren Stimme, die davon kündet, was juristischer Fachverstand ausradiert oder vom «relevanten Sachverhalt» ferngehalten hat. Sie sucht jene Resonanz und Erschütterung darzustellen, welche die juristischen Paukenschläge auslösen. Immer wieder steht Gesetz gegen Mensch. Die Stimme der Menschlichkeit erhebt Einspruch gegen das im Namen des kalten Buchstabens verkündete Urteil. Oft steht allein die Akte gegen den Menschen. Alles hat sich verändert: Täter, Opfer, Richter, Gesetz. Nur der juristische Fall zwischen den Aktendeckeln ist immer noch unverändert und verlangt Rache.

Eine Justizkritik, die sich am klassischen Justizirrtum orientiert, greift zu kurz. Sie begünstigt den Aberglauben, durch Ausmerzen einer kleinen Anzahl von Justizirrtümern könne Gerechtigkeit hergestellt, nicht nur geübt werden. Die Justiz ist im Irrtum, wenn sie durch majestätisches Gehabe ihre Urteile über andere Menschen mit der Aura einer höheren Weisheit umgibt. Sie ist es, wenn sie die Medien durch Disziplinierung zu einer Hofberichterstattung heranzieht. Gerichtsberichterstattung sollte ein Unruheherd sein.

Die Justizkritik ermöglicht, die überall vorhandene Schuld wahrzunehmen, weil sie versteckte Zusammenhänge aufdeckt. Sie setzt Signale der Erinnerung, an denen sich die Menschen wieder aufrichten können. Die Öffentlichkeit spürt durch die Justizkritik, dass Vielstraferei, Fabrikation von Sündenböcken und Zerstörung von Existenzen (auch Täter haben Angehörige!) nicht die letzte Wahrheit sind, dass selbstgerechtes und scheinheiliges Zu-Gericht-Sitzen über andere wenig mit Gerechtigkeit zu tun hat. Die Justizkritik macht erlebbar, dass es unsere Aufgabe ist, Strafe zurückzudrängen.

Wir sollten erkennen, dass der Einzelne stellvertretend für viele Schuldige als Sündenbock vor Gericht steht. Wer hat ihn zuvor übervorteilt, ausgestossen, verleumdet? Wer hat dem Drogensüchtigen den Lebensmut genommen? Wer hat die Habgier und Geltungssucht des Hochstaplers angestachelt, von ihm profitiert? Stehen all diese Mitschuldigen vor Gericht? Wurde die angeklagte Mutter, die jetzt ihre Kinder misshandelt hat, nicht damals, als sie selbst ein Kind war, genauso misshandelt? Setzt sich das Elend, das vor Gericht verhandelt wird, nicht über Generationen fort wie ein Fluch? Erben sich nicht auch Gesetz und Recht wie eine ewige Krankheit fort?

Wir sollten fragen, wieso ist der Prozess gegen die von der Polizei missbrauchte V-Frau angehoben worden und jener gegen den Polizeioffizier nicht? Wir sollten hellhörig werden, wenn immer mehr Prozesse aus dem Dunkel der Amtsstuben herauswachsen, unabhängig vom Willen des Opfers ausgelöst werden. Und wer ist es, der verfolgt wird?

Dass Strafe gegen Kleine und Harmlose eingesetzt wird, ist Folge der menschlichen Bequemlichkeit. Es ist für Strafverfolger einfach, weniger gefährlich und eben viel, viel bequemer, gegen kleine Leute vorzugehen mit dem schweren Geschütz, mit dem sie sich ausrüsten liessen, um angeblich gegen Mafia und organisierte Kriminalität zu kämpfen. Justizkritik ist unverzichtbar.