Vogel, friss oder stirb!

Zwangsbehandlung in der Psychiatrie

Basler Zeitung, 09.04.2001

Erschien darauf mit bunten Farben
Die junge Königin im Glas
Hier war die Arzenei, die Patienten starben.
Und niemand fragte: Wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, in diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
«Faust»

Dass sich ein Chirurg mit erhobenem Skalpell auf den flüchtenden Patienten stürzt, ist Phantasie. Dass ein psychisch Kranker sich einer Behandlung mit Neuroleptika widersetzt und mit körperlicher Gewalt dazu gezwungen wird, dies wird noch heute in der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) in Basel praktiziert. Und dies obwohl die Wunderpillen («die junge Königin im Glas») nicht nur abweichende, sondern auch intakte Hirnfunktionen beeinträchtigen, deshalb schädliche Nebenwirkungen haben und der «Heileffekt» dieser Psychopharmaka umstritten ist.

Jedes Jahr werden in Basel 300 Personen zwangshospitalisiert

Zu den zwangsweise mit Medikamenten Versorgten gehören auch harmlose Personen(wie z.B. der Patient P., über dessen Kampf gegen die PUK die BaZ am 25.01.2001 und 22.02.2001 berichtete) . Die so zwangsweise Behandelten haben sich nichts zu Schulden kommen lassen, sind nicht straffällig geworden und sind meist ungefährlich. Ihr einziger Fehler: Sie sind seelisch krank, leiden unter Wahnvorstellungen, hören Stimmen, leiden unter ihren Ängsten, ihr Wirklichkeitsbezug ist in gewisser Beziehung nicht «normal», gestört, verrückt.
Jedes Jahr werden allein in Basel in der PUK 300 Personen zwangshospitalisiert und zum Teil auch gegen ihren Willen gewaltsam mit Medikamenten versorgt. Von Ärzten und auch von Juristen werden sie als «behandlungsbedürftig» etikettiert. Man achte auf die neue Sprache: Mit dem Wort «Behandlung» wird nicht mehr der ganzheitliche therapeutische Umgang (der sich übrigens nicht mit Zwang vereinbaren lässt) mit dem Mitmenschen gemeint, sondern lediglich die medikamentöse Therapie! Wer psychisch leidet und von seiner Umgebung nicht mehr akzeptiert wird, verschwindet auch heute noch, wenn nötig mit Hilfe der Polizei, amtsärztlich in Kliniken. Überforderte Angehörige, Lebenspartner, Arbeitgeber oder Vermieter übergeben so gemeinsame Lebensprobleme mit den Kranken der Klinik und der Pharmaindustrie. Von Zwangsbehandlungen betroffen sind oft junge, sensible Personen, die in Lebenskrisen stecken. Sie können die von den Eltern und der Gesellschaft an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllen. Mit Verdacht auf eine paranoide Schizophrenie werden sie der medikamentösen Behandlung in Kliniken zugeführt. Ihre soziale Problemsituation wird dadurch oft noch verschlimmert. So wie auf der einen Seite der Verzicht auf illegale Drogen mit Strafe durchgesetzt wird, zwingt der gleiche Staat psychisch Kranke zur Einnahme anderer Drogen, die keineswegs ungefährlich sind und ebenfalls in eine schwere Abhängigkeit führen können.

Biologistische Psychiatrie verwechselt Ursache mit Wirkung

Intoleranz und Angst vor auffälligem Verhalten rufen in unserer Gesellschaft nach einer «technisch-medizinischen Lösung» des Problems; und die gibt es scheinbar: Eine Pille gegen Angst, eine gegen Depressionen, eine gegen Wahnvorstellungen. Angst, Depression und Wahnvorstellungen sind aber seelische Phänomene und keine unmittelbar vom Gehirn, in dem die Mittel ansetzen, verursachte Abläufe. In der hochkomplexen, noch weithin unverstandenen Hirnphysiologie unterbrechen diese Mittel – auf grobe Weise – lediglich Prozesse, reparieren sie etwa nicht, geschweige stimulieren sie neue Prozesse. Psychiater, die gegenüber den Psychopharmaka kritisch eingestellt sind, erklären die Wirkungen dieser Medikamente folgendermassen: Die physiologischen Abläufe im Gehirn werden dermassen gestört, dass in der Psyche, also auf einer viel höheren Organisationsstufe des Gehirns, Auswirkungen ausgelöst werden, die zum einen Teil erwünscht (= die Wirkung) und zum anderen Teil unerwünscht (= die psychischen Nebenwirkungen) sind. Wer aber aufgrund dieser Wirkung folgert, dass die psychiatrischen Probleme an sich Hirnstoffwechselstörungen wären, verwechselt Ursache mit Wirkung. So aber argumentiert die momentan stark vertretene biologistische Psychiatrie und zieht Medikamentation der Gesprächstherapie vor.
Die biologistischen Psychiater reduzieren komplexe seelische Vorgänge, wie sie auch im psychotischen Erleben auftreten, auf mikrophysiologische Störungen im Gehirn. Das ist, wie wenn in der Fingermuskelphysiologie des Täters nach der Ursache eines Mordes durch Pistolenschuss gesucht würde.
Das Neuroleptikum ist kein spezifisches Heilmittel gegen Schizophrenie. Es dämpft nur – in einer grossen Bandbreite – zahlreiche Hirnfunktionen. Es dämpft also nicht nur Sinnestäuschungen und Wahnideen, sondern auch das Bewusstsein, die Konzentration, die Reaktionsfähigkeit, die Wahrnehmung und die Motorik. Das erste Neuroleptikum Largactil wird immer noch für einen sonst nicht behandelbaren Schluckauf eingesetzt. Neuroleptika werden als Schlaf- und Beruhigungsmittel in Altersheimen und sogar – wenn alle Riemen reissen – für überaktive Kinder, die ihre Mütter zur Verzweiflung bringen, eingesetzt.

Kein Selbstbestimmungsrecht für gewisse Patienten

Im Normalfall wird die Meinung des Patienten über die Verträglichkeit von Medikamenten von den Ärzten ernst genommen. Bei Schizophrenen hingegen passiert es nicht selten, dass Nebenwirkungen von Medikamenten als zur Krankheit gehörend eingestuft werden, worauf Dosierungen erhöht und auch diese Nebenwirkungen gedämpft werden. Leider zeigen sich die Nebenwirkungen beim Absetzen der Medikation wieder als Zuckungen und Spasmen, die manchmal bleibend sind. Trotzdem gelten Patienten, die diese Mittel verweigern, als «krankheitsuneinsichtig». Kann ein Arzt nicht verstehen, dass es Patienten gibt, die lieber die «Krankheit» als die chemische Zwangsjacke erdulden? Schliesslich wird auch kein Zwang gegenüber Personen ausgeübt, die ihre Gesundheit durch Nikotin- oder Alkoholmissbrauch schädigen.
Die Psychiatrie schafft den medikamentös verwalteten und finanziell zulasten der Gesellschaft zwangshospitalisierten und zwangsmedikamentös behandelten Menschen. Zwangsbehandlungen sind demütigend und untergraben die Eigenständigkeit der kranken Person. Wehrt sich ausnahmsweise ein Patient, so wird dies zunächst als unbeachtlich und belanglos zur Seite geschoben, bis dann die Klinikleitung die Sache als «Privatkrieg» eines «Urteilsunfähigen» gegen die Klinik einzustufen gezwungen ist. Der psychisch leidende Patient wird nicht ernst genommen, sein klar und nachhaltig formulierter Wille, nicht zwangsweise behandelt zu werden, missachtet. Wie Straffällige werden psychisch Kranke, die sich der gewaltigen Hilfe widersetzen, gejagt und mit der Polizei verfolgt, falls sie sich der Zwangsbehandlung entziehen.
Die Frage bleibt: Kann ein Mensch, der sich nichts hat zu Schulden kommen lassen und der sich durchaus eine Meinung darüber bilden kann, wie er sich behandeln lassen will und wie nicht, zur Behandlung gezwungen werden? Darf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nur in Verlautbarungen, nicht aber im praktischen Einzelfall hochgehalten werden? Das Urteil der Klinikärzte und ihrer Juristen ist einfach: Wer die vorgeschriebenen Medikamente ablehnt, dem fehlt die Krankheitseinsicht, der ist nicht urteilsfähig, gegen den wird Gewalt angewendet. Mit gutem Grund: Der Verkaufsumsatz aller Neuroleptika allein in der Schweiz beträgt jährlich 300 Millionen Franken.