Zihlmann: Macht Strafe Sinn?

Schweizerische Juristen-Zeitung SJZ, Heft 19, 2003

Zihlmann, Peter: Macht Strafe Sinn? Sieben Fragen und ein Dutzend Geschichten rund um Recht und Gerechtigkeit. 263 S. (Zürich 2002. Schulthess). Brosch. Fr. 42.-.

Keine leichtverdauliche Kost setzt der Autor seiner Leserschaft vor. Anhand der sieben Fragen «Wer soll richten?», «Wer steht vor dem Richter?», «Welches Unrecht erscheint nie vor dem Strafrichter?», «Ist das Gericht der Ort der Gerechtigkeit?», «Ist das Gericht der Ort der Wahrheit?», «Gründe oder Abgründe des Urteilens?», «Wie viel Strafe braucht der Mensch? (Wie überwinden wir Unrecht?)» wird ein wenig schmeichelhaftes Bild über die Justiz im Allgemeinen und die Richter im Besonderen entworfen. Wie menschliches Zusammenleben geordnet und geregelt werden soll, was Recht sein soll, wie Unrecht begegnet werden soll, lässt sich nicht ein für alle mal gültig beantworten, zu verschieden und wandelbar sind die Wertmassstäbe über die Zeiten und Kulturen hinweg. Es ist daher unabdingbar, dass die vom Autor aufgeworfenen Fragen immer wieder neu gestellt und diskutiert werden. Über weite Strecken liest sich das Buch von Peter Zihlmann jedoch mehr als Abrechnung mit einem System, das er als durchwegs unmenschlich, ungerecht und gewalttätig bezeichnet, und mit Richtern, die er als abhängig, verfilzt, machtbesessen und gefühllos beschreibt. Dass er diese Einschätzung unterschiedslos und, losgelöst von den konkreten Strukturen eines Staatswesens vornimmt, ist eine unangemessene Gleichmacherei. Die Justiz, vertreten durch die Richter als so genannte dritte Gewalt im Staat, übt zweifellos Macht und Zwang auf Einzelne aus und erweist sich insofern für den Betroffenen als gewalttätig, sowohl im Straf- als auch im Zivilrecht. Wenn aber der Autor beklagt, die Strafjustiz verwalte im Wesentlichen nur die Kleinkriminalität und diszipliniere Aussenseiter, während das viel grössere gesellschaftliche Unrechtspotenzial durch Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen straflos bleibe, so unterlässt er zu fragen, ob nicht gerade das Staatswesen und mit ihm die Justiz gestärkt werden sollte, um ein Gleichgewicht mit der weitaus mächtigeren und das alltägliche Leben des Einzelnen oft weit einschneidender bestimmenden Wirtschaft zu erreichen. Zu Recht kritisiert Zihlmann das schweizerische Wahlsystem für Richter, die sich regelmässigen Wiederwahlen stellen müssen und mit ihrer Nähe zu politischen Parteien, denen sie zumeist erhebliche Abgaben zu entrichten haben, in den Ruch der Abhängigkeit geraten. Den Ausweg bei Laien zu sehen, die Zihlmann zu richten als ebenso befähigt hält wie Juristen, übersieht die sich daraus ergebenden und nicht so ohne weiteres sichtbaren Verflechtungen mit den von Laien hauptberuflichen Tätigkeiten, woran sich Zihlmann zu Recht stört. Beizupflichten ist dem Autor in seiner Einschätzung, dass juristische Schulung und Denkweise allein noch keinen «guten», d.h. menschlich einfühlsamen Richter ausmacht. Dass juristische Kenntnisse des Richters dem Rechtsuchenden oder Rechtunterworfenen generell eher schädlich, während unverbildete Menschen aus dem Volk diesen gegenüber für emotionale und allgemein-menschliche Aspekte eher offen und daher nützlich sein sollen, ist eine kaum zulässige Vereinfachung und Pauschalierung. Wenn er die Frage nach dem Sinn von Strafe stellt, so weist er zu Recht darauf hin, dass heutzutage in einer Erziehung von Kindern die Anwendung von Gewalt nicht mehr als gangbarer Weg verstanden wird. Davon ausgehend postuliert der Autor eine sorgfältige Erziehung des Einzelnen, in der das Gute gelohnt und als Alternative zum Strafen gefördert werden soll. Der Mensch soll lernen, selbst richtig zu handeln und die Bedeutung und den Wert einer solchen Haltung zu erkennen; der Mensch soll lernen, in seiner nächsten Umgebung das Schwache zu schützen, das Leben zu fördern, solidarisch und partnerschaftlich mit den Mitmenschen umzugehen und ihn nie zu benützen. Goldene Regel soll die bald zweitausend Jahre alte Weisheit Hillel’s sein: Was du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu. So sehr diese Bestrebungen zu unterstützen und zu fördern sind, so fraglich bleibt, ob sich das Bewusstsein der Menschen in Zukunft mehr als bisher daran orientieren wird. Ebenso fraglich bleibt, ob die vom Autor vorgeschlagenen Verfahren in der Form öffentlicher Wahrheits- und Erkenntnisprozesse, in denen eine Tat öffentlich missbilligt werden soll, verbunden gegebenenfalls mit Sanktionen wie Konfiskation des Fahrzeuges, Berufsverbot bis hin zu gemeinnütziger Arbeit und Halbgefangenschaft den vom Autor als zentral postulierten Täter-/Opferausgleich erreichen können. In einem zweiten Teil lässt Zihlmann seinen Reflexionen über die Sinnfrage zwölf Fall-Geschichten folgen, die alle menschliche Schicksale zum Inhalt haben, und überlässt es der Leserschaft, sich darüber ein eigenes Urteil zu bilden. Ob dieses gerechter ausfällt als in den einzelnen Geschichten, muss offen bleiben.

Annegret Katzenstein, Zürich