Zeitschrift für Strafrecht

Peter Zihlmann – Macht Strafe Sinn?

ZStrR – Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, Band 120 – 2002

Der Ombudsmann, Rechtsanwalt, Strafverteidiger und erklärte «Justizkritiker» (S. 21) Peter Zihlmann legt eine Abhandlung vor, welche die Strafjustiz auf zwei Ebenen kritisch beleuchtet. Zum einen geht es um die Art und Weise, in der Strafjustiz praktiziert wird. Erörtert wird hier unter anderem das nach Auffassung Zihlmanns zu staatsorientierte Agieren der Justizjuristen, der Umgang mit den Verfahrensrechten des Beschuldigten und der Verteidigung, wie beispielsweise mit dem Beweisantragsrecht, die nicht vorurteilsfreie Beweiswürdigung durch das Gericht, das Auseinanderfallen der geschriebenen und der «wirklichen» Urteilsgründe. Besonders hervorzuheben sind die, dem momentanen Zeitgeist nicht entsprechenden, aber gerade deshalb umso verdienstvolleren Mahnungen, den Eigenwert der prozessualen Form nicht aus den Augen zu verlieren: «Es gibt keinen anderen Weg zur Wahrheit als den fairen Prozess unter Beachtung der Prozessgrundsätze und der Menschenrechte gegenüber dem Einzelnen, der zur staatlichen Verantwortung gezogen wird» (S. 97). Die Kritik auf dieser Ebene, die dem praktischen Erleben vieler Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger entsprechen wird, kann sicherlich auch von selbstkritischen Richtern und Staatsanwälten als zumindest im Ansatz berechtigt anerkannt werden, dürfte aus der Sicht Zihlmanns aber wohl eher von sekundärer Bedeutung sein.

Vornehmlich geht es Zihlmann nämlich darum aufzuzeigen, dass das Strafen und damit die Strafjustiz als solche insgesamt sinnlos und deshalb – im Anschluss an ein Diktum des Strafrechtlers und Rechtsphilosophen Radbruch – zukünftig durch etwas Besseres zu ersetzen ist. Seine Kritik an der Sinnlosigkeit des Strafens und damit an der Strafjustiz an sich leitet Zihlmann aus der Erkenntnis ab, dass die Strafjustiz weder in der Lage sei, gesellschaftliche Probleme zu lösen, noch Wahrheit und Gerechtigkeit herzustellen. Strafjustiz ist für Zihlmann eine Waffe in der Hand des Staates, für deren Gebrauch dem postmodernen Staat die Legitimation fehle. Folgerichtig fordert er nicht nur die Abschaffung der Freiheitsstrafe als Sanktion, sondern die Abschaffung des Strafverfahrens herkömmlicher Prägung, an dessen Stelle Verantwortlichkeitsprozesse, öffentliche Wahrheits- und Erkenntnisverfahren nach dem Vorbild der 1995 in Südafrika eingesetzten Wahrheitskommissionen sowie Ausgleichsverfahren zwischen Täter und Opfer treten sollen. Flankiert werden soll diese Umgestaltung des Sanktionenrechts durch ein soziales Interventions- und Förderungsprogramm sowie eine Verstärkung des Polizeischutzes der Bevölkerung. Diesen abolitionistischen Schlussfolgerungen wird man allerdings auch dann nicht ohne weiteres folgen müssen, wenn man, wie der Rezensent, mit Zihlmann darin übereinstimmt, dass die Strafjustiz tatsächlich nicht in der Lage ist, gesellschaftliche Probleme allein zu lösen und/oder Wahrheit und Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne herzustellen. Die entscheidende Frage ist, ob die Legitimation der Strafjustiz als Institution mit diesem Anspruch steht und fällt. Zihlmann bezieht hier einen klaren Standpunkt, der in der kriminalpolitischen Diskussion auf Zustimmung, sicherlich aber auch auf Widerspruch stossen wird. Die vorliegende Abhandlung dürfte ihren Sinn und Zweck bereits dann erfüllt haben, wenn es ihr gelingt, eine entsprechende Diskussion zu initiieren.

Prof. Dr. Wolfgang Wohlers, Zürich