Plädoyer für das Gesetz des Herzens

Neue Zürcher Zeitung Nr. 160, 13. Juli 2004

Das Fazit eines Anwalts und Richters

Eigentlich soll das Recht der Gerechtigkeit dienen. Dass dem aber nicht immer so ist, darüber kann mancher Praktiker eine Anekdote erzählen. So auch der Basler Advokat Peter Zihlmann, der nach über 30-jähriger Anwalts- und nebenamtlicher Richtertätigkeit in den Ruhestand geht – nicht ohne Vermächtnis: «Das Gesetz über dem Recht» heisst des Justizkritikers sechstes Buch, ein Ratgeber für Suchende nach Recht und Gerechtigkeit.

Prozesse vermeiden

Prozessieren lohnt sich nicht, werden wohl manche Leser und Leserinnen denken, wenn sie den Buchdeckel schliessen. In der Tat nennt Zihlmann viele Gründe, warum man besser darauf verzichtet, vor den Kadi zu treten. Nachbarstreitigkeiten oder Scheidungen, um zwei Beispiele zu nennen, können auch einvernehmlich geregelt werden, wenn die beiden Parteien sich darauf zurückbesinnen, dass nebst der rechtlichen auch noch eine andere Ebene existiert. Zihlmann nennt sie das Gesetz über dem Recht: die metaphysische Ebene nämlich, das Gesetz des Lebens und des Herzens. Dieses erfordert es, manchmal auf einen Prozess zu verzichten, um sich anderen, wichtigeren Dingen zu widmen: seinen Kindern etwa, oder seinen Mitmenschen und Träumen.
Vielfach entscheiden sich die Menschen aber entgegen diesen «Gesetzen», auf ihrem Recht zu beharren. Dabei sind jedoch Enttäuschungen programmiert: Unzählige Menschen seien vom Recht und von seinen Ansprüchen verlockt und dazu verführt worden, sich allzu sehr und etwas naiv auf dieses raffinierte Regelwerk zu verlassen, schreibt der Autor. Viele Menschen habe er unter dem Recht und der Justiz leiden sehen. Der gerichtliche ist eben nicht immer der goldene Weg.

Illusionen von Sicherheit

Da stellt sich die Frage: Was kann das Recht überhaupt leisten? Unterschiedlich viel. Im Strafrecht wenig, so Zihlmanns Tenor. Als passionierter Strafverteidiger analysiert er auch diesen Bereich der Rechtsordnung. Und kommt dabei zu einer wenig erbaulichen Bestandesaufnahme: «Das Recht im 21. Jahrhundert will nicht mehr Gerechtigkeit, sondern Sicherheit.» Man denke dabei an die weltweite Gesetzesflut seit dem September 2001 zur Bekämpfung des Terrorismus. Und aktuell: die Verwahrungsinitiative, die mit überwältigendem Mehr angenommen wurde und nur ein weiteres Beispiel dieser Tendenz ist, die auch die Schweiz erfasst hat. «Wir schützen uns vor schädlichem und gefährlichem Verhalten, indem wir die Täter wissenschaftlich erkennen, etikettieren und sie lebenslänglich in einen Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses einsperren», resümiert Zihlmann. Wenn wir aber annähmen, der Staat könne eine sichere Gesellschaft produzieren, indem er die Bevölkerung begutachten und aussieben lasse, dann überschätzten wir die Möglichkeiten des Rechts. «Unsere Gefängnisse sind randvoll, ohne dass unser Leben dadurch nur ein bisschen sicherer geworden wäre.»
Seid nett zueinander, vertraut dem Recht nicht bedingungslos, dafür eurem Herzen. So lässt sich Zihlmanns Botschaft zusammenfassen. Sein Buch ist kein Ratgeber im Stil der «Beobachter»-Reihe, dafür ein interessanter Anstoss um über Gerichte, Recht und Gerechtigkeit nachzudenken.

Jean François Tanda