Grenzenloses Helfen

Forum – Der Gastbeitrag: Grenzenloses Helfen

Aus Basler Zeitung 01. Juli 2004

Materielle und seelische Not gibt es auch hier und jetzt. Seit 1994 haben sich einige tausend Menschen, die nicht mehr weiter wussten, in ihrer Not. an mich gewandt, um rechtlichen Rat oder Beistand zu bekommen. Wer diesen Menschen ins Auge sieht und ihnen zuhört, ist entsetzt und fühl einen schmerzhaften Einbruch in seine vergleichsweise heile Welt. Er wird überschwemmt von Mitgefühl.

Bis zur Selbstaufgabe gefordert

Meist wenden wir uns dann ab, um nicht die Fassung zu verlieren und vergessen rasch. Werden wir vom Mitleid ergriffen, helfen wir, wo wir können. Lassen wir es nicht beim Almosen bewenden, beim in den hingehaltenen Hut hineingeworfenen Geld, werden wir merken, dass wir durch den andern bis zur Selbstaufgabe gefordert sind. Was wir auch für ihn tun, wir werden uns unserer eigenen Hilflosigkeit dem Leid des andern gegenüber bewusst. Wie vergeblich es sein kann, ein Leid heilen zu wollen, das tief und wesensmässig im Menschen drin steckt, habe ich immer wieder erfahren. Jene, die mich aufgesucht haben, waren vielfach weder fähig noch auch nur gewillt, sich ihrer Umgebung und deren Gesetzen anzupassen und so der gewährten Hilfe eine Nachhaltigkeit zu verleihen; sie waren eigenwillig bis verschroben, zogen es vor, ihren eigenen, beschwerlichen Weg zu gehen und ihr höchstpersönliches, sich jeder vernünftigen Begründung entziehendes «Ich möchte lieber nicht» den Forderungen der Rationalisierung unserer Gesellschaft entgegenzuhalten. An diesen Menschen bricht unsere Rechtsordnung auf wie die Welle an einem in der Brandung stehenden Felsen. Nicht selten sind sie von einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit beseelt und führen einen zermürbenden Kampf gegen wirtschaftliche oder staatliche Macht. Diesen vom Recht besessenen Jüngern des Michael Kohlhaas bereitet die Justiz ein grausames Fegefeuer, etikettiert sie als Querulanten und wendet sich kalt von ihnen ab, lässt sie in ihrem eigenen Fett schmoren. Diese Unfolgsamen und Unbeugsamen sind auch hoffnungsvoll, zeigen, dass es einen menschlichen Kern gibt – so ungeniessbar er auch erscheinen mag -, der nicht verfügbar und daher weder korrumpier- noch manipulierbar ist.

Hilfe nicht immer unbedenklich

Vielleicht ist Hilfe nur in existenzieller Notsituation unbedenklich. Geht sie weiter, greift sie ins ureigene Schicksal des Mitmenschen ein und wird von diesem als störend abgelehnt oder durch seine eigene unkorrigierbare Lebensweise neutralisiert. Hilfe erscheint dann als aussichtslos, und die Vernunft gebietet dem Herzen, nicht einzugreifen. Die Parabel des barmherzigen Samariters zeigt einen Helfer, der den existenziell Bedrohten, den Verwundeten am Wegrand, zwar verarztet und auflädt und ein Stück weit mitnimmt, ohne aber von seinem eigenen Weg und Ziel abzuweichen. Der Samariter hat den Verletzten in der Herberge abgegeben und für ihn bezahlt. Er hat die Eigenverantwortung des Verwundeten nicht durch unnötige Hilfe tangiert. Ich glaube, in dieser Selbstbeschränkung liegt eine für jeden Helfer zu beherzigende Grenze, die ihn davor bewahren kann, Wert und Einfluss seiner Hilfe zu überschätzen oder die eigene Hilfsbedürftigkeit hinter jener des andern zu übersehen. Wahrscheinlich entspringt unser Ansporn zu helfen unserem unersättlichen Mitleid. Fassen wir also unsere Quelle des Mitgefühls für andere im Wissen darum, dass der Helfende gleich bedürftig ist wie jener, der die Hilfe empfangen soll! Das Gute unserer Hilfe bewirkt, dass jener, der unsere Hilfe empfängt, aus Dankbarkeit andern in ähnlicher Situation auch wieder helfen wird.

Peter Zihlmann, Rechtsanwalt und Publizist in Basel, hinterfragt in seinen Werken die Justiz: «Ratgeber für Suchende nach Recht und Gerechtigkeit» (2003), «Macht Strafe Sinn?» (2002), «Justiz im Irrtum» (2000), «Die Tochter des Magistraten» (1998), «Der Fall Plumey/L’affaire Plumey» (1995); weitere Werke und Infos unter www.peter.zihlmann.com.