Kommentar zu Richterwahlen

Stadt-Zytig, 26. Mai 2006 

Als Richterin ins Appellationsgericht unseres Kantons ist im ersten Wahlgang Caroline Cron gewählt worden. Es herrscht bei der bürgerlichen Parteileitungen, allen voran bei der CVP eitel Freude. Der zwischen den Parteien ausgehandelte Parteienproporz hat sogar einer Kampfwahl mit den Grünen stand gehalten. Drohend vermerkt der Parteipräsident der CVP er nehme nicht an, dass ein unnötiger und teurer Urnengang für Richterwahlen die Regel werde. Sollen wir in das Geheul der Oberwölfe aus Justiz und Politik einstimmen? Was sind das für Menschen, die uns da zur Wahl vorgesetzt worden sind? Das bleibt weitgehend im Dunkeln. Was ist ein Richter, eine Richterin wert? Bei uns hierzulande nicht viel! In der Schweiz ist das Richteramt eine gesichtslose Erscheinung. Wir kennen unsere Richter nicht, unsere Gesellschaft lässt keine populären Richterpersönlichkeiten zu. Wieviel Bundesrichter können Sie beim Namen nennen? Wer kennt noch Andreas Heusler oder Carl Wieland, vor hundert Jahren grosse Juristengestalten, die auch als Richter in Basel tätig waren? Oder wer kann sich noch an die menschlich integeren und ausgeglichenen Richtergestalten und Menschen wie zum Beispiel an Bernhard Riggenbach, Helmuth Stofer, Hans Dressler erinnern, die noch vor wenigen Jahrzehnten hier gewirkt haben? Unsere Rechtsentwicklung durch die Gerichte ist nicht mit den Namen berühmter Richter verknüpft. Und das, obwohl die Richterwahlen bei uns durch Volk oder Parlament, also politisch erfolgen. Aber meist wird im Sinn der „Konkordanzdemokratie“ um die Sitze der Richter eine parteipolitische Ausmarchung im Stillen vollzogen. Richter werden gesellschaftlich höchstens dann weithin sichtbar, wenn sie fehlbar und durch Prozess und Medien zur Unperson werden wie dies zum Beispiel mit dem korrupten Tessiner Richter mit Beziehungen zur Mafia in der Ticinogate-Affäre 2001 geschehen ist. Oder denken wir, wenn wir uns Richtergestalten vorstellen, ohnehin zuerst an Barbara Salesch, Alexander Hold oder Ruth Herz, die im Namen des internationalen TV-Volkes ihre virtuellen Urteile sprechen? Im besten Fall ist bei uns der Richter ein Jedermann oder eine Jedefrau. Auf dieser gestaltlosen Anonymität gründet die zerbrechliche Autorität unserer realen Gerichte. Aber hinter dem Richteramt steckt viel mehr. Es verbirgt grosse Macht. Gehen wir geschichtlich einen Moment um gut 250 Jahre zurück.

Montesquieu hatte damals mit seiner Lehre von der Gewaltenteilung die monarchische Einheitsmacht des herrschenden Königs und Fürsten des Absolutismus gebrochen. Seine Macht wurde gedanklich von Montesquieu, selbst ein Baron, in drei verschiedene Funktionen zerlegt. Die drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung sollen von verschiedenen Personen ausgeübt werden. Die oberste Gewalt ist die Gesetzgebung, die in der Demokratie vom Volk und von dem von ihm gewählten Parlament ausgeht. Seit Montesquieu kann der Bürger einen von der Regierung unabhängigen Richter fordern. Garantiert diese Abspaltung der Justiz vom monarchischen Machtmonopol ein gerechtes Urteilen? Zweifellos ist die ursprüngliche königliche Willkür durch das Gesetz gebändigt worden. Der rechtsstaatliche Richter liest nicht mehr in seinem Herzen, er blättert in den Gesetzen und Verordnungen moderner Gesetzessammlungen oder durchforstet vor seinem PC die juristische Datenbank. Aber was findet er dort vor? Soll das gerecht sein, was durch die Mehrheit der Stimmberechtigten zum Gesetz erhoben worden ist? Und was geschieht mit dem Recht unterwegs vom Gesetzbuch in den Gerichtssaal und die Kanzleistuben, wo das Urteil nach oft geheimer „Praxis“gefällt und mit einer hermetisch unverständlichen juristischen Begründung ausgestattet wird? Dass der Richter mehr ist als nur eine Gesetzes-Vollzugsmaschine, ist unbestritten. Sonst könnte heute die Justiz durch ein Computerprogramm, ein Expertensystem für die Gesetzesanwendung erledigt werden. Der Richter bleibt der Rechtsetzer im Einzelfall. Dabei ist er in einer widersprüchlichen Situation. Dem Gesetz verpflichtet, in dessen Namen er Recht spricht, steht er im Gerichtssaal dem Menschen und seinem Schicksal gegenüber. Die Beurteilung des menschlichen Lebens entzieht sich dauernd dem Gesetz. Denn das Leben ist in ständigem Fluss, ist Ordnung am Rande des Chaos. Wird es zu unbarmherzig über gleichmacherische Gesetze gespannt, so verkümmert es und stirbt allmählich ab. Das Leben lässt sich nur gewaltsam und unter grossen Verlusten auf einen gesetzlichen Tatbestand reduzieren. Der Mensch darf nicht zum reinen case, zum Fall werden. Dürfen wir ihn so ausschliesslich auf seine Tat festnageln, dass wir ihn nach seiner Tat wie nach einem Beruf benennen und klassieren? Dürfen wir ihm das Urteil so präsentieren wie der Wirt dem Gast die Rechnung nach der Bewirtung: Es macht so und so viel. Sie sind ein Dieb, ein Geldwäscher, ein Betrüger.

Der Richter entnimmt dem Gesetz für den Einzelfall jene Regel, die er ausgerechnet dort nicht findet. Wäre die Regel im Gesetz klar sichtbar, bräuchte es keine Richter, sondern höchstens wie bereits erwähnt, ein intelligentes Computerprogramm. Trotzdem bleibt der Richter dem Gesetz verpflichtet, dort holt er seine Legitimation her, wenn auch recht mühsam. Denn es ist auch etwas Kümmerliches und Pharisäerhaftes, immer erst im Gesetz nachschlagen zu müssen, was aus dem Herzen, ja aus dem ganzen Menschen mit urkräftigem Behagen herausbrechen sollte und gelegentlich auch herausbricht: Das friedenstiftende, versöhnende, vielleicht väterliche oder mütterliche Wort zur Linderung menschlicher Zwietracht und Qual. Aber gerade das ist dem Richter versagt. Er kann Vieles, hat grosse Macht, der Jurist spricht vom Ermessen, ein die Macht hinter dem Urteilen verbergendes und verschleierndes Wort. Aber eines verlernt der Richter sehr schnell: den Menschen zu sehen, so wie er ist. Heuchelei verbietet ihm das. „Das Gesetz der Strasse“ fordert scheinbar vom Richter unerbittlich und unbarmherzig zu sein, blind und mit verbundenen Augen zu richten, ohne Ansehen der Person. Das bedeutet nicht nur, dass der Richter sich gegenüber Freunden und Bekannten unparteilich zeigt. Dass diese Haltung zu Unmenschlichkeit führen kann, sehen wir ungern. Der Richter sieht sich in der Rolle des an das Gesetz Gebundenen dazu verurteilt, sich der Stimme des Humanen zu verschliessen. Wir glauben, der Richter urteile nur dann gemäss dem Gesetz, wenn er beziehungslos und gefühllos entscheidet. Wir bewundern ihn deswegen, weil wir annehmen, das Gesetz selbst sei beziehungs- und gefühllos. Der Buchstabe ist uns plötzlich wichtiger als der Geist, der Fall wichtiger als der Mensch. Der Richter erachtet es als seine Pflicht und sein Recht, Menschen, die vor ihm stehen und deren Schuld er zu erkennen glaubt, durch Strafe zu quälen und ihr Leben zu zerstören. Dabei folgt er weniger und nur scheinbar dem Gesetz, das abgehoben und abstrakt wie es nun einmal ist, immer für Vieles im Einzelfall Raum lässt. Er folgt der politischen Opportunität, er richtet sich nach seiner Wählerschaft aus. Und das hat in der Schweiz Tradition, wo die Richter meist vom Volk oder vom Parlament auf eine kurze Amtsdauer von wenigen Jahren gewählt werden, ohne jede Garantie einer Wiederwahl. Diese starke Abhängigkeit des Richters vom politischen Willen ist eine schweizerische Eigenheit. Im Ausland erfolgt die Wahl des Richters wenn nicht auf Lebenszeit bis zum alterbedingten Rücktritt. Das macht den schweizerischen Richter gefügig und abhängig von der vorherrschenden politischen Strömung und vom Zeitgeist. Dieses demokratische Wahlsystem lastet als eine schwere rechtsstaatliche Hypothek auf der Schweizer Justiz. Der schweizerische Richter will sich politisch korrekt verhalten und ist vom Zeitgeist und vor allem von der politischen Stimmung mehr abhängig als vom Gesetz, zu dessen Anwendung er berufen ist.

Wie hat es der alttestamentarische Richter-König Salomon geschafft, als „der weise Richter“ in die Menschheitsgeschichte einzugehen? Er hat den Streit der beiden Mütter um das Neugeborene durch eine List entschieden. Er wusste, dass nach seiner Drohung, das Kind mit dem Richter-Schwert in zwei Teile zu zerschneiden, die „richtige“ Mutter an ihrem Einspruch zu erkennen ist. Er wusste, dass die Mutter eher bereit war auf ihr Kind zu verzichten als dessen Tod zuzulassen. Der moderne Richter ist in einer weitaus komfortableren Situation. Er würde eine DNA-Analyse durch das gerichtsmedizinische Institut anordnen. Technik hat Weisheit ersetzt. Noch immer nicht durch DNA-Analyse, sondern einzig durch richterliche Weisheit zu entscheiden ist der Streit zwischen der Pflegemutter, der sozialen Mutter und der leiblichen, der viele Jahre nach der Geburt ausbricht und in Bertold Brechts Stück „Der kaukasische Kreidekreis“ dargestellt wird. Dort besteht der „Mutterschaftstest“ des Richters darin, dass das Kind Michel in einen Kreidekreis gestellt und den Frauen befohlen wird, das Kind zu sich herüber zu ziehen. Nun ist die Magd, die das Kind erzogen hat, die wahre Mutter, die das Kind zweimal loslässt aus Angst ihm weh zu tun. Heute stehen dem Richter in vermehrtem Ausmass kriminaltechnisch erhobene Informationen zur Verfügung, trotzdem ist sein Urteilen in der Post-moderne einsamer denn je. Es ist ungewiss, ob in unserer heillos fortschrittlichen Welt Recht und Gerechtigkeit sich verwirklichen können. Zerstört ist unser Glaube, dass Wirklichkeit rational erfassbar und durchschaubar sein könnte. Wieso produzieren wir so unendlich viele Gesetze, wieso vermehren und erneuern wir sie Tag für Tag, Jahr für Jahr? Vielleicht ist der Richter Salomon unsterblich, weil er weise war, ohne Ideologie und ohne jeden technischen oder anderweitigen Fortschritt. Ohne tausend gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet zu sein, erkannte er ohne zu fragen und ohne zu zweifeln das Wahre und Wirkliche, nämlich die echte Mutter, die ihr Kind auch über ihren eigenen Besitzanspruch hinaus liebt und schützt. Das ist keine wissenschaftlich bestimmte Wahrheit, sondern aus dem ewig flachen Spiegel der Seele geschöpfte Weisheit.

Es lohnt sich allemal unseren Richtern und Richterinnen gleichen welcher politischer Couleur auf die Finger zu schauen und ihre Urteile uns durch den Kopf gehen lassen. Dazu bräuchten wir allerdings eine Gerichtsberichterstattung in dieser Stadt, die diesen Namen verdient. Die nicht nur ausgesprochene Strafen rapportiert, sondern das ganze dialektische Spiel in seiner ganzen Zerbrechlichkeit offen legt, auf die Gefahr hin, die Gesellschaft zu sensibilisieren für die Möglichkeiten und Grenzen des Rechts und der Richter.

Peter Zihlmann