Getötet aus nichtigem Grund

Basler Zeitung, 14. Februar 2007

Der Schwiegersohn ist ein brutaler Typ. Er hält seine 17-jährige Frau wie eine Gefangene. Schlägt sie. Quält sie. Sperrt sie ein. Am 18. April 2000 findet das Leben des 28-jährigen Schlägers ein Ende. Seine 41-jährige Schwiegermutter feuert sieben Schüsse auf ihn ab. Das Familiendrama geschah vor sieben Jahren im Kleinbasel. Rechtsanwalt Peter Zihlmann hat darüber ein Buch mit dem Titel «Basel – Pristina» geschrieben.
Die Frau aus dem Kosovo wird zwei Jahre später zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Basler Strafgericht schreibt 2002 in der Urteilsbegründung, die Frau habe aus nichtigem Grund getötet. Der Schwiegersohn sei nicht zu einem vereinbarten Treffen erschienen. Aus nichtigem Grund. Peter Zihlmann stolpert über diese Worte. «Es kann doch nicht sein, dass das Gericht den Grund dieser Tötung als nichtig ansieht», sagt er sich. Es gebe immer eine gerichtliche Wahrheit. Und eine andere. Denkt Zihlmann und macht sich auf die Suche. Er spricht mit der Mörderin. Mit ihrem Mann. Mit der Tochter. Mit der weiteren Ehefrau des Getöteten. Mit der Schwester des Getöteten. Fünf Ansichten kommen so zusammen, die Zihlmann im Buch «Basel – Pristina» erzählt.

Verhaltenskodex. Die Familie stammt aus dem Kosovo. Auch der Schwiegersohn. Die Eltern sind nicht glücklich, als sich ihre Tochter an einem lauen Frühlingsabend im Kannenfeldpark verliebt. Sie wissen nicht, dass der Schwiegersohn schon mit einer anderen Frau in Bern verheiratet ist. Der Schwiegersohn verbietet den Eltern den Kontakt mit der Tochter. Sie suchen Hilfe bei der Vormundschaft, bei der Polizei. Haben diese Stellen versagt, hätten sie das Drama verhindern können? «Das Ergebnis ist sicher ein Versagen. Doch ich würde nicht von Schuld reden», sagt Zihlmann. Was hätte man tun können? Für Zihlmann bedeutet der Fall fehlendes Verständnis für eine andere Kultur: «Die Behörden haben es wahrscheinlich nicht für möglich gehalten, dass sich hier ein Drama zusammenbraut.» Man sei eben nicht in der Lage, eine fremde Mentalität zu dechiffrieren.

Blutrache. So thematisiert Zihlmann auch den Kanun. Der Kanun ist ein Gewohnheitsrecht der im Norden Albaniens und im Kosovo lebenden ethnischen Albaner. Ein Verhaltenskodex. Er regelt die Bereiche Schuldrecht, Ehe- und Erbrecht und das Strafrecht. Auch Blutrache fällt darunter. Während des Kommunismus konnte der Staat seine Rechtshoheit durchsetzen. Doch seit dem Zusammenbruch des Kommunismus Anfang der 1990er-Jahre wird Blutrache wieder vermehrt verübt.
Wäre der Urteilsspruch anders ausgefallen, wenn die Frau ein Mann gewesen wäre? «Dass eine Mutter mordet, ist widernatürlich, denn eine Mutter gibt Leben.» Das Urteil von sechseinhalb Jahren sei ausserordentlich mild. «Der ‹Frauenbonus› spielte mit.» Es wäre zwei- bis dreimal so hoch ausgefallen, wenn ein Mann getötet hätte, ist Zihlmann überzeugt. Als Beispiel nennt er den Hirzbrunnen-Mord. Dort hatte der Täter achtzehn Jahre Gefängnis erhalten. Beim Marktplatz-Mord waren es zwanzig Jahre. «Das Gericht hat gespürt, dass die Mutter ihre Tochter schützen wollte.»

Übermächtige Verzweiflung. Das Buch ist teilweise sehr emotional geschrieben. Aus Sicht der Schwiegermutter ist der Mord die logische Folge ihrer übermächtigen Verzweiflung. Zihlmann relativiert. «In den Augen seiner Familie ist das Opfer nicht gewalttätig. Die Familie ist in Trauer.» Dadurch erhalte sein Buch Objektivität. Dennoch bleibt das Gefühl zurück, am meisten leide heute die Täterin. Nach Verbüssen ihrer Gefängnisstrafe in der Schweiz wurde sie durch die Fremdenpolizei ausgewiesen. Heute lebt sie unter erbärmlichen Umständen und völlig auf sich gestellt in Pristina, Kosovo.

Ausgewiesen. Das Strafgericht hatte im Urteil von einer Ausweisung abgesehen. Die Fremdenpolizei sah dies anders. «Es ist ein ähnlicher Fall wie jener des Sudanesen, der laut Appellationsgericht hätte freigelassen werden sollen, von der Fremdenpolizei aber ausgewiesen worden ist. Das ist doch ein Skandal. Die eine staatliche Hand spricht ein Urteil, die andere schiebt die Leute ab.» Die Schwiegermutter habe die Strafe sogar akzeptiert. Sich im Gefängnis sozialisiert, Deutsch gelernt. Durch die Ausweisung sei die zweite Bestrafung erfolgt. Hier in Basel ist die Tochter krank, hat eine Nieren- und eine Lebertransplantation hinter sich. Und wer kümmere sich um das Enkelkind? «Die ganze Familie ist destabilisiert, zusätzlich zur Belastung durch das Drama selbst.»
Für Zihlmann gibt es keine endgültige Wahrheit. «Die Geschichte erhält mit der Zeit immer mehr Risse, weil sie sich einer neutralen Sichtweise entzieht.» Was bleibt, sagt Zihlmann, sei das Vertrauen in die Mitmenschlichkeit. Oder eben die Verzweiflung vor der Unmenschlichkeit. Margrit Sprecher schreibt im Vorwort zu Zihlmanns Buch: «Unser Justizbetrieb wird von Jahr zu Jahr kühler und routinierter; an den Gerichten dominieren die Fleissigen und, ja, auch Faden. Leidenschaftslos, zielstrebig und zügig spulen sie ihre Fälle ab und verhängen zunehmend härtere Strafen.» Ganz so einfach ist es im beschriebenen Fall nicht. Das Urteil mild, die Richter verständnisvoll. Und als Begründung trotzdem: Ein nichtiger Grund.

Claudia Kocher