Gefährliches Maskenspiel der Rechtsdiener

Riehener Zeitung 14. August 1998

L I T E R A T U R
Der Riehener Jurist und Autor Peter Zihlmann übt mit seinem neuesten Justizroman harte Kritik am heutigen Rechtssystem

Kürzlich ist der Roman «Die Tochter des Magistraten» von Peter Zihlmann erschienen. Die RZ hat sich mit dem Riehener Juristen und Autor getroffen, der seiner Leserschaft ein menschliches Drama schildern will.

RZ: Worum geht es in Ihrem Roman «Die Tochter des Magistraten»?

Peter Zihlmann: Eigentlich geht es um die uralte Frage, ob Gesetz und Menschlichkeit miteinander vereinbar seien. Konkret zeige ich, wie fragwürdig unser Strafgesetz ist, wenn man es auf den einzelnen Menschen anwendet.

Ist Gerechtigkeit nicht möglich?

Gerechtigkeit kann immer nur eine Annäherung sein, gemäss Friedrich Dürrenmatt kann etwas nur gerechter, nicht aber gerecht sein. Gerechtigkeit entzieht sich immer wieder unserem Zugriff. Sobald wir etwas als gerecht definieren, grenzen wir anderes aus, was zu Ungerechtigkeiten führen muss.
Ich sehe eine Tragik darin, dass Menschen Funktionen zugewiesen bekommen, die sie ausführen müssen. Sie müssen eine Maske tragen, doch wenn sie sich zu sehr mit der Maske identifizieren, wird es gefährlich. Staatsanwalt Georg Schlegel in meinem Roman ist ein typisches Beispiel.

Es gibt eine Stelle im Roman, an der Georg Schlegel die Kontrolle über sich verliert und mit den Fäusten auf einen Polizeibeamten loshämmert, um seine Tochter zu schützen. Damit macht er das für ihn Verheerende, wirkt aber gleichzeitig so menschlich wie nie sonst im ganzen Roman. Was will der Autor Peter Zihlmann damit zeigen?

Jemand, der die Position von Georg Schlegel erreicht hat, Staatsanwalt und Anwärter auf ein hohes politisches Amt ist, kann nicht mehr aus seiner Rolle austreten. Tut er das trotzdem, muss er scheitern. Für Georg Schlegel bedeutet sein kurzfristiges Ausrasten sein Ende.

Wie sind Sie zu dieser Überzeugung gekommen?

Aufgrund meiner Lebenserfahrung. Es ist wie im Schachspiel, hat man einmal gewisse Züge gemacht, kann man nicht mehr zurück.

Beruht das Buch auf konkreten Vorkommnissen?

Die Handlung hat sich so nicht abgespielt. Aber der Roman ist zusammengesetzt aus vielen Vorkommnissen, wie sie sich tatsächlich abspielen. Beispiel sind die nächtlichen, stundenlangen Verhöre.

Indem Sie diese Vorkommnisse schildern, kritisieren Sie das heute praktizierte Rechtssystem?

Ja. Ich kenne Leute – kleine Existenzen, junge Leute, alte Leute, Invalide – die ins Gefängnis geschleppt wurden weil sie ihre Bussen nicht bezahlt haben oder eine Bagatelle begangen haben, andere wurden zu Unrecht einer Sache beschuldigt und konnten sich nicht wehren. In solchen Fällen schaltete ich mich einerseits als privater Ombudsmann ein, andererseits sind es solche Geschichten, die mich zum Schreiben brachten. Denn es darf doch einfach nicht wahr sein, dass zum Beispiel eine ansonsten unbescholtene Siebzehnjährige in ein Heim eingewiesen wird, weil sie schwarz Tram gefahren ist, und dann aus dem Fenster springt und sich eine Rückenverletzung zuzieht. – Allerdings hatte mein Engagement seinen Preis. nachdem ich während 20 Jahren untadelig als Anwalt praktiziert hatte, verhängte das Appelationsgericht Basel-Stadt Disziplinarverfahren gegen mich. Begründung: unsachliche Kritik und Beizug der Presse.

Haben Sie Mitstreiter?

In der Schweiz gibt es praktisch keine Justizkritiker. Friedrich Dürrenmatt etwa war einer. Doch sonst? – Anders ist es in Frankreich, dort, gibt es viele Schriften von Justizkritikern.

Im Gegensatz zu den Publikationen dieser französischen Kritiker wirkt ihr Roman, rein äusserlich gesehen, weniger seriös, er ist populär aufgemacht. Welche Absicht steckt dahinter?

Ich will einen breiteren Leserkreis ansprechen. Man soll das Buch als menschliches Drama lesen können.

Sie sind Jurist, arbeiteten als Rechtsanwalt. Nehmen Sie auch eine öffentliche Rolle ein?

Rückblickend erkenne ich, dass ich mich dieser Rolle entzogen habe. Ich arbeitete zuerst als Jurist in der Privatwirtschaft, dann als selbständiger Rechtsanwalt. Vor viereinhalb Jahren habe ich den kommerziellen Anwaltsberuf an den Nagel gehängt. In diesem Sinne habe ich einen Rückzug gemacht. Ich scheute mich, eine Karriere – die durchaus angelegt war – zu Ende zu führen. Ein höheres Richteramt habe ich nicht gewollt. Ich habe die Freiheit bevorzugt.

Hatten Sie negative Vorbilder?

Ich sah, wie Chefs in der Privatwirtschaft vorwärtskamen. Aber dazu mussten sie sich unterordnen. Auch ich ordnete mich anfangs unter. Allmählich merkte ich aber, dass ein grosser Unterschied bestand zwischen dem, was ich unter dem Recht verstanden hatte, und dem, was in der Privatwirtschaft praktiziert wurde.

Sie sind von unserem Rechtssystem enttäuscht?

Ja, ich hatte es mir nicht so vorgestellt. Ich muss aber zugeben, dass ich anfangs auch mitgemacht hatte, lange nicht realisierte, dass man vor allem «der Sache dienlich» zu sein hatte.

Sie schalteten sich in Strafverfahren ein und wandten sich an die Presse. Erhielten Sie Unterstützung von Rechtsanwaltskollegen?

Nein, sie gingen auf Distanz. Ich merkte, dass es keine Solidarität gibt, nur Neidgenossenschaft. Dafür erhielt ich Sympathiebekundungen von anderer Seite, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte.

Gibt es kulturelle Unterschiede in der Rechtsprechung? Wird bei Strafverfahren in anderen Ländern anders vorgegangen als in der Schweiz?

Von den Ländern, die ich kenne, habe ich in den USA, in Deutschland und in England eine grössere Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit festgestellt. Bei Gerichtsverhandlungen gibt es Rede und Gegenrede.
Doch bei uns sind die Gerichte stur. Sie haben eine Meinung vom Gang der Dinge, und die Staatsanwalt spurt entsprechend vor. Wenn der Rechtsanwalt eine neue Version vorbringt, gilt er als Störenfried. Die Bereitschaft, etwas zu hinterfragen, fehlt. Ich stelle in der Schweiz mehr Obrigkeitsdenken als in anderen Ländern fest.
In der Schweiz bestehen starke Allianzen zwischen dem Gericht und der Polizei. Wenn Sie sagen, ein Polizist habe Sie misshandelt, wird Ihnen nicht geglaubt. Das ist einfach so.

Sie nannten die USA. Wie beurteilen Sie den Medienrummel um die angebliche Sexaffäre von Bill Clinton?

Es geht auch um die Demaskierung einer öffentlichen Person. In den USA hat diese Demaskierung starken Unterhaltungswert.

Zurück zu Ihrem Roman. Hatten Sie literarische Vorbilder?

Stilistisches Vorbild für den Roman war die französische Schriftstellerin Emanuelle Bernheim. Sie schrieb «Sa femme», eine Liebesgeschichte. Mein Ziel war, so über das Recht zu schreiben, wie sie über die Liebe schrieb, Ihre Technik ist, kurze Szenen zu einem Roman zusammenzufügen und dabei Leerstellen offenzulassen. Das hat mich inspiriert. Weitere Vorbilder sind Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Franz Kafka.

Auslösendes Moment für die unglücklichen Folgen in Ihrem Roman ist die Gefängnisstrafe eines jungen Mannes. Sind Gefängnisstrafen falsch?

Ich zweifle sehr am Sinn des Strafens. Ich anerkenne zwar, dass man Massnahmen zur Sicherheit ergreifen muss. Aber ich hoffe doch sehr, dass das heutige Strafrecht im nächsten Jahrtausend ein Auslaufmodell sein wird.

Gibt es Alternativen?

Wir müssen von der Käfighaltung wegkommen, denn daraus kann nichts Gutes werden. Wir wissen, dass die Rückfallquote um so grösser ist, je drakonischer die Strafe ist; von Resozialisierung kann keine Rede sein.
Unser heutiges Strafrecht ist nur ein Ordnungsprinzip, doch ausser der Ordnung muss es doch noch Barmherzigkeit, Mitmenschlichkeit, etwas Ganzheitliches geben. Dies müssten wir lernen.

Interview: Judith Fischer


«Die Tochter des Magistraten»

Hauptpersonen im Roman «Die Tochter des Magistraten» sind Staatsanwalt Georg Schlegel, seine Tochter Anna lind der junge Delinquent Thomas Umbach. Obwohl Spieler und Gegenspieler. werden sie alle, zumindest zeitweise, zu Opfern der Geschehnisse. Für Georg Schlegel endet die Geschichte tödlich, und für Thomas Umbach scheinen Gefängnislaufbahn und weitere Straftaten unaufhaltbar.

An einer zentralen Stelle des Romans denkt Anna über den Tod ihres Vaters nach. Ihr wird klar, dass ihr Vater ein Doppelleben geführt hat, wie alle Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. Und sie erkennt, dass er im Kampf‘ um die innere Sicherheit von vielen schuldigen Händen gefällt worden ist und dass auch sie dazu beigetragen hat. Nüchtern stellt sie fest, dass niemand ihn gerettet hat, nicht seine Familie, nicht seine Freunde, nicht seine Arbeitskollegen und auch nicht seine Parteimitglieder. Und Anna erkennt, dass das ihren Vater zur Strecke gebracht hat, wofür er immer gekämpft hatte. das Gesetz und die Ordnung.

fi