Gedanken zu Ferdinand von Schirachs Bühnenstück «Terror»
für das Programmheft der Förnbacher Theater Company 2017/2018
von Peter Zihlmann, Rechtsanwalt und Richter a.D.
Ein besonderes Stück Theater erwartet Sie. So zentral und erfolgreich wie von Schirach eine Gerichtsverhandlung zum Spielort im Theater erhoben hat, ist das wohl seit Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug nicht mehr geschehen. In einem Geniestreich gelingt es dem Autor, das Strafgericht zum Theater und zugleich das Theater zum Gericht zu machen.
Das Privileg, das Urteil über den angeklagten Piloten zu sprechen, fällt am Ende dem Publikum, Ihnen allen zu. Das Ticket ist Ihr persönlicher Stimmstein. Damit wird Ihnen am Schluss der Vorstellung, der Verhandlung, eine schwierige, vielleicht sogar eine unmögliche Frage gestellt. Der Vorsitzende des Gerichts wird dann Ihr Urteil verkünden.
Wenn Ferdinand von Schirach diese Entscheidung dem Publikum überlässt, ist anzunehmen, dass er dem vom ältesten griechischen Tragödiendichter Aischylos (+ 456 v. Chr.) in der Orestie aufgezeigten Weg folgt. Im letzten Teil seiner Tragödie wird auf dem Areopag neben der Akropolis das erste Gericht eingesetzt. Aischylos versucht am Schluss das Urteil über den Muttermörder Orest, der in der Falle des Schicksals sitzt und den Tod seines Vaters rächen musste, einer „höheren Instanz“, der Göttin Pallas Athene, zu überlassen. Dem griechischen Dramatiker war klar, das Gericht hat letztlich über das „Unentscheidbare“ zu entscheiden.
Auf den ersten Blick handelt es sich im Stück TERROR um eine zwar schlimme, aber doch eindeutig zu beantwortende Frage: Darf das Flugzeug mit 164 Passagieren und der Besatzung an Bord im Flug abgeschossen werden, wenn es in Terroristenhand als Waffe eingesetzt wird, um im vollbesetzten Fussballstadion in München mit 70‘000 Zuschauern zum Absturz gebracht zu werden?
Wird das Flugzeug nicht vorher abgeschossen, so ist anzunehmen, dass 70‘164 sterben werden. Ein klarer Fall scheint das doch zu sein: Der Pilot muss die 70‘000 Menschen retten!
An dieser Stelle beginnt das eigentliche Drama. Der Pilot Major Koch bekommt von seiner Einsatzleitung nicht den angeforderten Abschussbefehl, sein Befehl lautet ausdrücklich „nicht schiessen“!
Der Grund liegt in der komplexen Rechtslage. Das deutsche Luftsicherungsgesetz aus dem Jahre 2005 erlaubte im Fall des „Renegade“ das heisst, wenn ein Flugzeug als Waffe benützt wird, den Abschuss der von Terroristen gekaperten Maschine. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch diese Bestimmung ein Jahr nach Erlass als verfassungswidrig erklärt und aufgehoben. Die Menschenwürde ist unantastbar, bestimmt die deutsche Verfassung. Die Einsatzleitung der Luftwaffe verweigert den vom Piloten geforderten Abschussbefehl ausdrücklich. Der Pilot entschliesst sich in letzter Minute zur eigenmächtigen Handlung, zur Befehlsverweigerung, und schiesst das Flugzeug ab, um eine grössere Katastrophe zu verhindern. Er bringt es nicht fertig, 70‘000 Menschen sterben zu lassen. Er findet es richtig, wenige Menschen zu töten, um viele zu retten. In dieser extremen Situation schwingt er sich zu seiner wahren Grösse auf. Oder wird er so zum Kriminellen? Das ist nun die Frage. Als Major der Luftwaffe ist er Teil der staatlichen Gewalt und an das Verfassungsrecht gebunden. Gegen diese Bindung, die er als Fessel empfindet, hat er sich mit prometheischer Kraft aufgelehnt. Die Staatsanwältin jagt ihn vor Gericht dialektisch durch das ganze Argumentarium seiner Rechtfertigungen hindurch bis er sagt, die Menschen im Flugzeug müssen sich der Staatsräson opfern und er würde „es wieder tun“. Jetzt schnappt die von Ferdinand von Schirach gestellte Falle zu mit der von der Staatsanwältin gestellten Frage an den Angeklagten: „Dann, Herr Koch, stelle ich Ihnen nur noch eine Frage: Hätten Sie geschossen, wenn Ihre Frau in dem Flugzeug gewesen wäre?“ Diese Frage kann der Pilot nicht mehr beantworten.
Nun begreifen wir auch, dass das Gericht in Extremfällen unentscheidbare Fragen beantworten muss.
Wie beurteilen Sie den Angeklagten? Ist er des Mordes an 164 Menschen schuldig oder ist er gerechtfertigt? Steht an höchster Stelle die Verfassung als oberstes Prinzip oder das Gewissen des Einzelnen?
Wie werden Sie wohl am Ende der Vorstellung entscheiden?