Basler Zeitung, 25.01.2001
Ein Patient der Psychiatrischen Universitätsklinik (PUK) wehrt sich gegen einen Fürsorgerischen Freiheitsentzug (FFE). Er werde unnötig gegen seinen Willen festgehalten und medikamentiert. Die PUK fühlt sich im Clinch, nicht nur in diesem Fall, und rechtfertigt sich.
Die PUK ist ein besonderes Dörfchen am Rand der Stadt. Wir betreten es durch das Hauptgebäude, das aussieht wie ein Bahnhof. Dahinter liegen verstreut die einzelnen Gebäude; ihre vielfältigen Baustile zeugen von der stetigen Ausdehnung des Spitals. Da sind Gehege und Käfige mit gezähmten Tieren und Vögeln. Darüber raucht der Kamin der Kehrichtverbrennung.
Der Patient
R4 ist eine geschlossene Akutstation. Hier lebt seit kurzem auch N. P. (29). In den letzten Tagen haben er und sein Anwalt Peter Zihlmann versucht, die Öffentlichkeit auf sein Schicksal aufmerksam zu machen. P. leidet unter Schizophrenie. Er hat zuweilen Zwangsvorstellungen, psychotische Anwandlungen, Panikzustände. Er empfängt uns im unbehaglichen Besuchszimmer. P. ist schmächtig, bleich, spricht leise, aber klar und deutlich.
«Das ganze letzte Jahr», erzählt er, «lebte ich draussen, in meiner Wohnung, machte mein Zeug und bewarb mich für Stellen.» Der gelernte Kaufmann ist IV-Bezüger und hat aber eine lange Vorgeschichte, was die Psychiatrie betrifft. Er sei schon ungefähr zehn Mal eingeliefert worden, sagt P., meist gegen seinen Willen. Man habe ihm unter Zwang auch Medikamente verabreicht. Mit seiner Familie habe er ein schwieriges Verhältnis.
Der jüngsten Einlieferung ging eine richtige Odyssee voraus: Vor einigen Wochen meldete sich P. bei der Polizei, um eine Anzeige gegen einen Angehörigen zu machen. «Ich glaubte damals, er hätte einen Computer mit wichtigen Industriedaten gestohlen»,‘ erzählt P. Die Polizisten merkten schnell, dass der junge Mann verwirrt war, und brachten ihn in die PUK. Der Amtsarzt autorisierte, was im Jargon FFE heisst: den Fürsorgerischen Freiheitsentzug.
Aber P. entwischt aus R4 und irrt tagelang in der Stadt umher. Sein Psychiater Piet Westdijk gewährt ihm zeitweise Asyl in seiner Praxis; auch er ist gegen den FFE und findet es falsch, dass P. unter Zwang Psychopharmaka verabreicht werden. Trotzdem kehrt P. zurück in die PUK. «Weil mir keine andere Wahl blieb», sagt er. Sich im Januar in Kellern und leeren Häusern zu verstecken war keine Alternative.
Auf R4 muss P. einen ziemlichen Wirbel veranstaltet haben. Letzte Woche zieht er sich einen Muskelriss zu. «Sie haben mich zwangsmedikamentiert und ich habe mich gewehrt: Dabei muss das passiert sein», erzählt der Mann bitter. In seiner Revolte hat er sich mit der Patientin C. verbündet. «Ich mache nicht so schnell den Schirm zu. Ich bin eine Kämpfernatur», sagt sie, und zu P.: < Du auch, Junge. Schau nicht so betreten.» Bevor sich hinter uns die Türen wieder verriegeln, ruft C. zum Abschied: «Schnapp draussen etwas Luft für uns!» Für C. und P. ist R4 ein Gefängnis.
Die Klinik
Die Psychiatrische Rekurskommission (PRK) hat die Einweisung und die Zwangsmedikamentierung abgesegnet. Nachträglich schaltet P. den Anwalt ein. Die Medien werden neugierig. Die PUK gerät unter Druck und entscheidet sich, zum FFE Stellung zu nehmen, zu einer Praxis, die erst seit 1996 im Psychiatriegesetz geregelt ist. Die Europäischen Menschenrechte verlangen, dass jeder Freiheitsentzug von einem gerichtlichen Gremium verfügt wird: Die PKR präsidieren Richter.
Der ärztliche Leiter der PUK, Franz Müller-Spahn, versicherte gestern den Medien, das Selbstbestimmungsrecht sei «ein hohes Rechtsgut». Aber sein Stellvertreter, Asmus Finzen, lieferte eine lange Liste von Fällen, wo der Schutz von Patient und Umfeld nach Ansicht der Behörden schwerer wog. Der Psychiater nannte eine Reihe von Zahlen, die den Erfolg von FFE und dosierter Psychopharmaka belegen sollten: verhinderte Selbstmorde, Belegungsstatistiken.
Die Zahlen sprechen für die PUK. Trotzdem halten sich hartnäckig die Ängste, unliebsame Patienten würden per < Pharmakeule» (Zihlmann) stillgelegt. In. den 70er Jahren gab es eine starke antipsychiatrische Bewegung, die dann abflaute, mit dem Internet aber wieder aufflammte.
Der Fall P. ist deshalb besonders pikant: P. ist auf dem Netz aktiv im Kampf gegen Psychopharmaka und Zwangsmassnahmen. Finzen spricht von einem «Privatkrieg». P. betätigte sich auch politisch am linken Rand des Spektrums. Kein Wunder, entsteht der Vorwurf, ein «Dissident» würde kaltgestellt. Zu urteilen, ob dem so ist, kann kein Laie sich anmassen.
«Kein Einzelfall»
Dass der- Rechtsweg im Fall P. eingehalten wurde, bestreitet niemand. Allerdings wird darüber gestritten, ob die Einweisungsgründe, wie sie im Schweizerischen Zivilgesetzbuch und im Kantonalen Psychiatriegesetz beschrieben sind, gegeben waren. Patient und Anwalt sagen nein; die Ärzte und Institutionen sagen ja: Das Gesetz bezeichnet auch eine «unzumutbare Belastung der Umgebung». Laut einer Angehörigenorganisation, die auch P.s Familie betreut, sei «die Familie an dem Fall fast kaputtgegangen». «Alles erlogen», kommentiert P. verbissen.
Der PUK-Leitung geht es aber um mehr als nur um den Fall P: «kein Einzelfall». Die Klinik ist immer wieder im Clinch zwischen den Ansprüchen von Patienten, Angehörigen und Behörden. Die einen verlangen die Freilassung, die anderen die Einlieferung. Bei fast 100 Prozent Belegung, sagt PUK-Direktor Fritz Jenny, habe die Klinik kein Interesse, jemanden unnötig festzuhalten.
Matthias Wyssmann