Vom Vertrauen in die Justiz, vor allem wenn man selbst betroffen ist

Basler Zeitung Nr. 113, 15. Mai 1996

In der Schweiz werden Gesetze im Namen des Volkes gemacht. Es wählt auch seine Richter. Deshalb haben wir Vertrauen in die Justiz, welche die Gesetze anwendet. Auch Strafe muss sein, denken wir. Sie schützt die Gesellschaft vor Kriminellen und garantiert Ordnung und innere Sicherheit.

Wieso immer wieder der Ruf, die Rechte des Angeschuldigten zu verbessern, wodurch der zügige Gang der Strafverfolgung behindert wird? Die Staatsanwaltschaft ist objektiv und erhebt nur soweit absolut nötig Anklage. Bestehen Zweifel, so wird das Gericht freisprechen, andernfalls mit dem Kriminellen kurzen Prozess machen und ihn hart bestrafen. Ist das nicht gerecht? Unser Vertrauen in die Justiz scheint ungebrochen zu sein.

Fragen über Fragen

Dazu ein Nachsatz: Erst wenn man selbst von der Justiz betroffen ist, kommen Fragen. Kann der Staat mein Geld nehmen, meine Gespräche abhören, mein Bild zur Fahndung veröffentlichen, meine Familienangehörigen oder mich selbst verhaften und mich am Ende zur Strafe einsperren, so wie wir es mit unseren Tieren tun? Was heisst Verdacht? Beweis? Zeuge? Der hat doch gelogen. Der hat sich getäuscht. Der ist gegen mich! Der vertritt doch den Standpunkt meines Gegners oder Feindes! Der ist im andern politischen Lager! Das Fahndungsfoto zeigt mich nur wegen einer falschen Zeiteinblendung (BaZ Nr. 85). Wie soll der Richter entscheiden? Wie soll er wissen, was Sache ist? Wie soll er meine Unschuld erkennen oder meine Schuld ermessen? War er dabei, weiss er, was ich gedacht habe? Wieso weiss er, was ich wusste? Was soll der Vorwurf, ich hätte das Schlechte «in Kauf genommen»? Wieso glaubt man dem andern mehr als mir? Wieso nimmt der Richter diese Stelle in den Akten nicht zur Kenntnis und zitiert das Dokument, in dem so viel gegen mich steht? Ist der Richter unfehlbar? Woher nimmt er Autorität; mich zu verurteilen?

Die Strafjustiz als Machtmittel Wenn wir unsere Stimme dagegen empört und unnachgiebig vor dem Funktionär erheben, werden wir selbstverständlich zur Ordnung und Disziplin gerufen. Das ist der Augenblick, wo wir merken, dass wir den Richter erst richtig kennenlernen, wo – wir realisieren, dass es kein überzeugendes, verständliches Gesetz mehr gibt, aber ein bürokratisch labyrinthisches Gestrüpp von Paragraphen, das uns ausweglos umstellt. Das könnte auch der Moment sein, da uns Angst beschleichen kann. Wir spüren die Strafjustiz als Machtmittel in unbekannter, vielleicht feindlicher Hand, als Waffe in der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auseinandersetzung. Psychodramen und gruppendynamische Prozesse im juristischen Gewand rauschen vor unseren staunenden Augen vorbei. Jetzt möchten wir gerne wissen, welche juristischen und menschlichen Garantien uns behüten vor Irrtum, Übergriff und Fehlurteil. Jetzt spätestens merken wir, wo wir hingestellt worden sind: auf die Seite der Kriminellen, ja sogar der Widerspenstigen unter ihnen. Sehen wir nicht bald jenen Figuren zum Verwechseln ähnlich, die alles abstreiten, Weglügen, den Uneinsichtigen, die sich nicht unterwerfen und daher härter zu bestrafen sind?

Die Grenzen unseres Vertrauens

Persönlich betroffen – und schon werden die engen Grenzen unseres Vertrauens in die Justiz sichtbar. Das ist der Punkt, wo wir sogar öffentlich Bedenken anmelden können, sofern wir es mit der Rechtsordnung eines Nachbarstaates zu tun haben, wie dies bei Wirtschaftskriminalität oder internationalem Drogenhandel oft vorkommt. Stehen wir dagegen im Konflikt mit der eigenen Justiz, so wird unsere Kritik als Betroffener mit der gebotenen Distanz der Zuhörer im kleinen Kreis zur Kenntnis genommen, kaum je öffentlich gehört. Der Betroffene ist aber offen für neue Fragen: Wieso hat sich Basel-Stadt so lange und verbissen gegen die Einführung des Haftrichters gewehrt? Wieso geben wir so spät Einsicht in die Akten? Wieso gibt es keine Höchstdauer für Haft? Wieso kaum Entschädigung für ungerechtfertigte Haft? Wieso können wir nicht mit dem Staatsanwalt über die Anklagepunkte verhandeln oder ein Strafverfahren vermeiden? (Vgl. Fall Ueli Vischer betreffend 70-Millionen-Deal der Bâloise mit der Mailänder Justiz, BaZ Nr. 69.) Wieso wird mir in diesem Fall kein Anwalt zur Verfügung gestellt?

Wenn es heisst: «Erheben Sie sich, Angeklagter!» Wer hat schon den Humor, vertrauensvoll zu antworten: «Gerne, wenn es der Wahrheitsfindung dient!»?

Der grösste Justizirrtum

Es ist verständlich, dass wir uns für die Rechte der Angeschuldigten erst interessieren, wenn sich das System gegen uns selbst richtet. Aber dann ist es zu spät. Was können wir jetzt schon tun? Für die Rechte des Angeschuldigten in der kommenden Strafgesetzrevision eintreten? Ja. Trotzdem wird es immer Justizirrtum geben. Ein Strafurteil bleibt immer ein Urteil eines Menschen über einen andern Menschen. Der grösste Justizirrtum ist es ohnehin, Strafe für gerecht zu halten. Sie ist bestenfalls eine Notwehr der Gesellschaft. Beschränken wir deshalb das Strafrecht auf das Notwendige.. Das ist besser, als neue Gefängnisse zu bauen und die Strafjustiz aufzublähen. Wenn wir uns auf unsere eigene Verantwortung besinnen und im Alltag danach leben, dient das der innern Sicherheit von uns allen mehr.

Ich habe gehört: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!