Schweizer Familie: «Ich zweifle am Sinn des Strafens»

Interview in der SCHWEIZER FAMILIE Nr. 30, 23. Juli 1998

Interview: Ruedi Spöndlin
Fotos: Andri Pol

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Er war zwanzig Jahre lang Strafverteidiger – und begann an der Justiz zu zweifeln. Heute schreibt Peter Zihlmann Bücher, die die gängige Praxis der Strafverfolgung hart kritisieren.

Fragwürdige Ermittlungsmethoden und chancenlose Angeklagte – im neuen Kriminalroman «Die Tochter des Magistraten» des ehemaligen Basler Strafverteidigers Peter Zihlmann sitzt die Justiz auf der Anklagebank. In einem Gespräch mit der SF erklärt Zihlmann, warum er nicht mehr Anwalt sein will, warum Werner K. Rey keine Chance auf einen fairen Prozess hat und was er über Bundesanwältin Carla del Ponte denkt.

Schweizer Familie: Wenn ein Strafverteidiger einen Krimi schreibt, fragt man sich natürlich, wieweit die Handlung wahren Begebenheiten entspricht. Wie ist das bei Ihrem Buch?

Peter Zihlmann: Der Handlungsablauf hat sich meines Wissens so nicht ereignet. Es sind aber viele Mosaiksteine aus meiner 25jährigen Anwaltspraxis in das Buch eingeflossen. Bei einem Williams-Schnaps würde man sagen: Das Aroma ist drin, aber nicht die Birne.

SF: Das Buch ist eine scharfe Kritik an unserer Justiz. Eine Unschuldige geht für zwei Jahre ins Gefängnis. Ein Grund dafür ist die Kronzeugenregelung, von der Sie offenbar nichts halten.

Zihlmann: Der Kronzeuge ist ein Tatbeteiligter, dem Strafbefreiung oder Strafermässigung zugesichert wird, wenn er auspackt und seine Komplizen belastet. Dadurch kann es leicht passieren, dass ein Täter sich «freikauft». Er belastet eine Person der Anstiftung, einer Form der geistigen Urheberschaft, wie ich das in meinem Roman schildere.

SF: In der Schweiz gibt es aber keine Kronzeugenregelung.

Zihlmann: Sie wird vor allem in den USA, in Deutschland und in Italien angewendet – im Kampf gegen die Mafia. Ich befürchte aber, dass die Kronzeugenregelung bald auch in der Schweiz eingeführt wird. Schon heute gibt es verwandte Formen: In Drogenfällen etwa werden auch bei uns Angeklagte gegeneinander ausgespielt. Wer raffiniert ist, entlastet sich auf Kosten anderer.

SF: Sie beschreiben die Verhörtechnik eines Staatsanwalts, der den Angeklagten mürbe macht, indem er ihm ständig ins linke Auge starrt. Kommt es tatsächlich vor, dass Unschuldige zu einem Geständnis gedrängt werden und schliesslich sogar selber an ihre Schuld glauben?

Zihlmann: Dass ein völlig Unschuldiger gestand, habe ich noch nie erlebt. Hingegen kommt es regelmässig vor, dass Angeschuldigten das Wort im Mund verdreht wird. Durch logisches, vielmehr scheinlogisches Aufdecken von Widersprüchen stülpen die Ermittler den Aussagen der Angeklagten eine vorgefasste Meinung über.

SF: Wie läuft das konkret ab?

Zihlmann: Ein Fall aus meiner eigenen Praxis: Einer unbescholtenen Frau war die Manor-Kundenkarte gestohlen worden. Sie erstattete Anzeige, worauf die Ermittler plötzlich den Spiess umdrehten und behaupteten, sie habe den Diebstahl bloss erfunden, die Einkäufe selbst getätigt und ihre Unterschrift verfremdet. Die Polizeibeamten brüllten sie an: «Geben Sie es endlich zu! Wir haben Zeit. Sie bleiben in Haft.» Die Frau verstand die Welt nicht mehr.

SF: In Ihrem Roman wird nächtelang verhört. Ist das Fiction oder Realität?

Zihlmann: Auch dazu ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein Ärzteehepaar wurde verdächtigt, den Tod einer Patientin vorsätzlich herbeigeführt und die Krankengeschichte gefälscht zu haben. Die Vorwürfe stellten sich später als haltlos heraus. Die Ärztin wurde nachts abgeholt und verhört. Stundenlang versuchten die Ermittler, sie weichzuklopfen. Verwirrend war für die Frau, dass sie gar nicht wusste, was ihr vorgeworfen wird. Am Schluss war sie total fertig.

SF: Fordern Sie sanfte Einvernahmen bei Kaffee und Kuchen?

Zihlmann: Nein, aber bei derartigen Einvernahmen wird das Gespräch missbraucht. Eine Einvernahme ist ein verfälschtes, bösartiges Gespräch, das mit Fallen gespickt ist und die Angeschuldigten aufs Glatteis führen soll. Sehr passend finde ich übrigens den Begriff des «Verhörs». Beim Verhör verhört man sich, man hört etwas Falsches. Die Sprache der Justiz kann zum Mordversuch an der Wirklichkeit verkommen.

SF: Sie sind als Verteidiger des Financiers André Plumey bekannt geworden, der letztes Jahr wegen Anlagebetrugs zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie gelangten in dieser Sache an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg, der gravierende Verfahrensmängel aufdeckte. Verlaufen Wirtschaftsprozesse häufig unfair?

Zihlmann: ja, aus verschiedenen Gründen. Der Angeschuldigte wird verhaftet, oft nachdem er zuerst geflohen ist. Seine Konten werden blockiert, seine Geschäfte lahmgelegt. Sein Ruf ist ruiniert. Die Medien verfolgen den Fall intensiv, die Öffentlichkeit bekommt alles aus der Sicht der Strafverfolger mit. Dies kommt einer Vorverurteilung gleich. Interessant ist nun, dass es damit sozusagen sein Bewenden hat. Nachher zeigt niemand mehr Interesse am Abschluss des Verfahrens. Der Form halber ergeht nach Jahren ein Urteil. Ein Freispruch ist politisch ausgeschlossen.

SF: Plumey hat unzählige Kleinanleger betrogen.

Zihlmann: Eben nicht. Kleinanleger gab es kaum. Das ist eine Desinformation der Ermittler.

SF: Aber er wurde des Betrugs schuldig gesprochen.

pers1klZihlmann: Ein typischer Anlagebetrug liegt vor, wenn jemand den Anlegern vorgaukelt, ihr Geld in gewinnträchtige Projekte zu investieren. In Wirklichkeit verjubelt er es selbst. Plumey handelte nicht so. Er war ein sogenannter Engpasstäter, was ihm im Gerichtsurteil zugestanden wurde. Er investierte das Geld zunächst wie versprochen. Als die Renditen ausblieben, hörte er nicht rechtzeitig auf und stopfte mit dem Geld neuer Anleger die Löcher. Wäre ihm das gelungen und der Ölpreis gestiegen, so wäre er als erfolgreicher Vermögensverwalter gefeiert worden.

SF: Und darum halten Sie ihn für unschuldig?

Zihlmann: Sicher hat Plumey falsch gehandelt. Seine spekulativen Geschäfte sind mir keineswegs sympathisch. Aber seine Opfer sind in einem gewissen Sinne seine Gesinnungsfreunde, wie im Fall Rey. Auch Rey wurde bewundert. Die Banken rissen sich darum, mit ihm Geschäfte zu machen. Als die Sache schief ging, brach man den Stab über ihn. Solche Geschäfte dürfen nicht geduldet werden. Das Strafrecht ist aber das falsche Mittel, um sie zu verhindern.

SF: Rey behauptet, er habe in der Schweiz keine Chance auf einen fairen Prozess. Hat er recht?

Zihlmann: ja. Rey wird in den Medien massiv vorverurteilt. In dieser Situation ist ein unvoreingenommenes Verfahren kaum möglich. Reys Verfolger – Untersuchungsrichter Rösler und Staatsanwalt Schnell -, werden in den Medien als Publikumshelden gefeiert. Strafverfolger scheinen sich heute grosser Popularität zu erfreuen. Denken wir nur an Bundesanwältin Carla del Ponte, die sich sehr medienwirksam in Szene zu setzen versteht, oder an den früheren Tessiner Staatsanwalt Paolo Bernasconi. Das ist einer unvoreingenommenen Rechtspflege nicht förderlich.

SF: Eine eindrückliche Gestalt in Ihrem Roman ist der Vater der unschuldig verurteilten Tochter. Zu Beginn ist er als Hardliner unter den Staatsanwälten ein geachteter Mann in der Stadt. Als er sich aber auf ein Handgemenge mit zwei Polizisten einlässt, die seine Tochter verhaften wollen, wird er von der Gesellschaft ausgestossen. Haben Sie auch hier aus dem Leben gegriffen?

Zihlmann: ja. Wir können immer wieder beobachten, dass jemand hochgejubelt und dann aus relativ nichtigem Anlass fallengelassen wird. Ein typisches Beispiel ist Elisabeth Kopp. Ein kurzes Telefon mit ihrem Mann wurde ihr zum Verhängnis. Die Sache wurde von den Medien zum Skandal gemacht. Sie musste als Bundesrätin zurücktreten. Dass sie nachher vom Bundesgericht freigesprochen wurde, spielte gar keine Rolle mehr. Auch die Ermittlungen, die US-Präsident Clinton über sich ergehen lassen muss, gehören in dieses Kapitel. Für das Publikum haben derartige Demontagen offenbar Unterhaltungswert.

SF: Das Sprichwort «Die Kleinen hängt man, die Grossen lässt man laufen» ist also unzutreffend?

Zihlmann: In Wirtschaftsprozessen zumindest hängt man die Grossen.

SF: Kommen die Kleinen besser weg?

Zihlmann: Nein, so ist es nicht. In unserer Gesellschaft wird allgemein zuviel bestraft. Ich zweifle immer mehr am Sinn des Strafens. Zur Bewältigung des wirklich grossen Unrechts in der Welt tut die Strafjustiz zu wenig. Sie trug weder zur Eindämmung noch zur Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi oder der Sowjetunion Wesentliches bei.

SF: Befürworten Sie das geplante Kriegsverbrechertribunal der Uno?

Zihlmann: Ich befürworte jeden Prozess der Aufarbeitung, um Unrecht künftig zu verhindern. Die Exponenten von Unrechtsregimes sollten aber rechtzeitig an ihrem Tun gehindert werden. Leider kommt die Gerechtigkeit oft zu spät. Die Macht ist nicht immer auf der Seite von Recht und Gerechtigkeit.

SF: Der Anwalt in Ihrem Roman gibt seinen Beruf auf und wird Gerichtsberichterstatter. Auch Sie haben den Anwaltsberuf aufgegeben. Warum?

Zihlmann: Ich hatte den Eindruck, von der Justiz abgelehnt zu werden. Man behauptete, ich wolle das Justizsystem aus den Angeln heben. Zweimal wurde ein Disziplinarverfahren gegen mich eingeleitet. Einmal weil ich gedroht hatte, mein Anwaltspatent öffentlich zu zerreissen, wenn ein jugendlicher Ladendieb nicht aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Ein anderes Mal, weil ich öffentlich gegen die Untersuchungshaft eines kranken Mannes protestiert hatte. Beide Male wurden die Verhafteten freigelassen, beide Male erhielt ich eine Busse. Seither will ich mich auf eine andere Art mit der Justiz auseinandersetzen. So begann ich zu schreiben.

SF: Im Nebenamt sind Sie immer noch Präsident des Basler Mietgerichts.

Zihlmann: Dies ist ein erfreuliches Zeichen, dass unsere offene Gesellschaft Kritik zulässt. Ich bin zudem weder vergrämt, noch fühle ich mich persönlich verletzt. Ich habe mich immer bemüht, niemanden persönlich zu verletzen. Es geht mir um die Sache, um das Nachdenken über unsere Justiz.