Richterwahlen in Basel-Stadt
Wie und nach welchen Kriterien fällt der Richter oder die Richterin ein Urteil? Welche Qualifikationen sind gefragt? Eine Einschätzung.
Basler Zeitung, 30.04.2021
Diesmal findet in Basel-Stadt ausnahmsweise eine Volkswahl statt, also keine Ernennung der Berufsrichter in das Appellations- und Strafgericht durch Parteienpoker (sogenannte stille Wahl). Wen wählen wir? Richter, die den Streit ums Recht im Einzelfall durch Urteil beenden. Sie sind an das Gesetz gebunden. Ein fehlerhaftes Urteil kann weitergezogen werden. Wir geniessen Rechtssicherheit.
Leuchten wir jedoch die Hintergründe des Richtens aus, merken wir, dass der Prozess sich gleichsam auf zwei Ebenen vollzieht. Der helle Vordergrund erscheint rational, vernünftig und notwendig zu sein. Der Richter wendet ein gesetzliches Prinzip, die Norm, auf den Einzelfall an, sorgt für einen fairen Prozess und begründet das Urteil. Das klingt nach strenger Logik. Die Rhetorik der Richter ist geschliffen und macht die Bruchstellen, die Abgründe des Urteils, unkenntlich. Das Urteil ist überzeugend und beschwerdefest formuliert.
Im Untergrund wird die abstrakte Norm in die konkrete Lebenssituation transformiert. Da geschieht nichts weniger Tiefgreifendes als bei der naturhaften Verwandlung der Raupe in den Schmetterling. Tatsachen müssen bewiesen werden. Da wird mit gesetzlichen Definitionen, Begriffen und Fiktionen hantiert. Da werden Spielräume des Ermessens genutzt, um Ereignisse umzugestalten. Die Waagschalen der Justitia geraten in magische Schwingung, und einseitige Kräfte wirken auf sie ein: Vor unserem staunenden Auge wird eine neue, gerichtliche Wahrheit konstruiert.
Wie Regisseure im Theater
Richter sind die Regisseure des Gerichtstheaters, das sich öffentlich vor unseren Augen vollzieht. Das Gesetz ist wenig mehr als das Textbuch für die Inszenierung des Stücks auf dem Forum des Gerichts, streckenweise immer noch ein Theater des Schreckens: Die brutale, nicht einholbare Tat, das Verbrechen schreit nach Rache.
Im Zentrum steht das Drama der Strafverfolgung des Täters. Er wird gejagt, verhört, aber nicht verstanden und – geständig oder nicht – am Ende durch Rechtsspruch und Strafvollzug zur Strecke gebracht. Das ist nicht nur Unterhaltungsprogramm. Die Strafjustiz hat sich am Leben gehalten durch ihre Verheissung, mittels Strafe für Gerechtigkeit zu sorgen.
Seit rund 20 Jahren verspricht sie nur noch Sicherheit durch vorsorgliches Wegsperren der als «gemeingefährlich» erkannten Täter. Der forensische Psychiater, ganz in den Dienst der Justiz gestellt, entlastet den Richter durch seine Einschätzung der Rückfallgefahr. Der Richter nickt ab, und der Strafvollzug verwaltet von nun an den Zellenschlüssel. Entscheidet dieser gegen Freilassung, kann ihm nichts passieren. Freilassung selbst nach Verbüssung der Strafe kann den Verantwortlichen bei Rückfall leicht Kopf und Kragen kosten.
Das ist fundamentaler Wandel des Rechts ins Gewissenlose hinein. Unser Sicherheitsbedürfnis hat den Durst nach Gerechtigkeit gelöscht. «I had a dream» müssten wir jetzt singen.
Was die Kandidierenden sagen
Was dürfen wir in dieser Situation noch vom Richter erwarten? Die Kandidierenden sagen es gleich selbst:
- Unabhängigkeit. Keine Weisungsempfänger als Richter.
- Unbefangenheit. Es gibt gesetzliche Ausstandsgründe. Er darf nicht in eigener Sache entscheiden.
- Kompetenz. Für Richter am Appellationsgericht ist eine juristische Ausbildung vorgeschrieben.
- Erfahrung. Das ist zweischneidig; gilt eher als Festschreibung der Fehler von gestern.
- Vorurteilsfreiheit. Ein frommer Wunsch!
- Ein (einziger) Richter bezeichnet sich als parteilos und unabhängig. Das sollten doch eigentlich alle sein?
- Eine Richterin mahnt das Erfordernis der Empathie an, nicht ohne gleichzeitig auf die «nötige Strenge» hinzuweisen.
Das erinnert mich an das alte, schreckliche Wort (1944) des «grossen» Strafrechtlers Ernst Hafter: Der Richter müsse bereit sein, eine Existenz zu zertrümmern.
- Eine Richterin möchte Menschen nach der Goldenen Regel so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.
Aber dann gälte wohl: Richtet nicht! Wie könnte sie da noch verurteilen? Richten ist ein grosses Ding.
Können wir den Selbstdeklarationen vertrauen? Im Zivilprozess stehen Sachfragen im Vordergrund. Was aber können wir von einem Menschen erwarten, wenn er über einen andern ein Urteil fällt? Der Mensch vor Strafgericht steht mit seiner ganzen Person, mit Leib und Leben für seine Tat ein. Er steht und fällt mit «seinem Fall».
Der Richter kann sich in unserer aufgeklärten Zeit nicht mehr auf Perücke, Talar oder Richterhut oder sein Amt berufen, um sich für seine Eingriffe in fremdes Leben zu rechtfertigen. Wir wissen: Vor Gericht steht der Mensch dem Menschen gegenüber, bricht über den andern am Ende den Stab. Und doch wissen wir zu wenig voneinander, um über den andern ein verbindliches Urteil zu fällen. Wir sind selbst in Schuld Verstrickte und Befangene, die keine Autorität haben, Mitmenschen zu verurteilen.
Richten ist ein grosses Ding. Zu Ende gedacht könnte es sich für uns aufgeklärte Menschen leicht als zu gross, als ein Unding erweisen. Schöner Traum Gerechtigkeit!
Peter Zihlmann (82) ist Jurist, Publizist und Autor, er war Richter und Strafverteidiger.