Basler Zeitung, 12.09.2024
Der bekannte Basler Anwalt Peter Zihlmann besucht seine demente Frau jeden Tag im Pflegeheim. Der Jurist und Autor spricht ungewöhnlich offen über die Höhen und Tiefen einer grossen Liebe.
Dies ist ein Text über die grosse Liebe. Aber auch über Betrug, Verzweiflung und Krankheit. Es ist die Geschichte des bekannten Basler Anwalts Peter Zihlmann und seiner Frau Béatrice. Gleich nach dem Gespräch auf der Redaktion wird er sie im Basler Pflegeheim Dominikus besuchen. Denn Béatrice ist krank, sie leidet an einer Form von Demenz.
«Wenn ich sie anschaue, wie sie dasitzt, so klein und zart. Wenn ich sie berühre und füttere – dann sehe ich vor meinen Augen immer noch das Mädchen von damals, in das ich mich verliebt habe», sagt Zihlmann. Der heute 86-Jährige war 24 Jahre alt und Jurastudent, als er an der Universität Basel begann, Vorlesungen anderer Fachrichtungen zu besuchen, und sein Blick in einer Vorlesung über Kunstbetrachtung an einer jungen Frau hängen blieb. Sie sass da und wirkte ein bisschen in sich gekehrt. «Arrogant», fanden einige. Zihlmann gefiel sie sofort. «Und sie gefällt mir bis zum heutigen Tag», sagt er.
Als junger Student nahm er an jenem Tag seinen ganzen Mut zusammen und setzte sich in dem spärlich gefüllten Vorlesungssaal direkt neben sie. Noch sollte es aber etwas dauern, bis aus den beiden ein Paar wurde. «Dating gab es damals nicht», sagt er. «Wir trafen uns nur an Veranstaltungen der Kirche wieder.» Zwei Jahre nach dem ersten Kontakt heirateten die beiden. 60 Jahre ist das jetzt her, die diamantene Hochzeit. Ein Fest, das nicht viele Paare feiern können.
Auch Peter Zihlmann kann mit Béatrice nicht mehr feiern. Sie lebt mittlerweile in ihrer eigenen Welt. Immer wieder hat sie zwar klare Momente, doch dann entgleitet sie ihm wieder. Er stelle es sich vor, wie wenn man auf einer Bergspitze ganz weit oben stehe und auf ein Nebelmeer blicke, sagt Zihlmann. «Vieles ist verschleiert und unklar. Aber dann erkennt man doch die Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau.» Seine Frau weiss noch, wer er ist. Auch die gemeinsamen Kinder erkennt sie. Bei den Enkeln ahnt sie hingegen nur noch, dass sie ihr irgendwie vertraut sind.
Die Kinder und der Haushalt waren immer die Sache von Béatrice. Peter Zihlmann, der aus sehr einfachen Verhältnissen stammt, wollte als Anwalt Karriere machen und eine eigene Kanzlei eröffnen. Tagsüber arbeitete er, abends schüttelte er die Hände wichtiger Leute. Seine Frau hielt ihm daheim den Rücken frei. «Der wichtigste Teil meines Lebens spielte sich im Beruflichen ab. Sie sorgte im Hintergrund für eine Kulisse aus Sanftheit und Liebe», so beschreibt er es. Und fügt an: «Ich weiss, dass das heute sehr altmodisch und patriarchal daherkommt. Aber so haben wir das gelebt, und ich fand es toll.»
Béatrice blieb auch dann noch sanft, als Zihlmann sie in der Mitte des Lebens mit einer anderen Frau betrog. Eine, die «so ganz anders» gewesen sei als Béatrice und die ihn «unglaublich gereizt» habe. Als Béatrice davon erfahren habe, habe sie geweint. «Nicht getobt, keine Vorwürfe gemacht – sie sass einfach da und weinte», erinnert er sich. Bis heute klingt er dabei leicht ungläubig. Er entschied sich dafür, die Affäre zu beenden. «Dass diese schöne Frau, die ich so sehr liebe, weinen muss, das war es nicht wert», sagt er.
Noch immer sagt er ihr, wie schön er sie findet, wenn er sie jeden Tag im Pflegeheim besucht. Meistens essen sie dann zusammen zu Mittag. Er sehne sich nach diesen Begegnungen. «Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Frau je würde weggeben müssen.»
Vor ihrem Umzug ins Heim pflegte er die demente Frau zweieinhalb Jahre daheim – bis er nicht mehr konnte. Damit war er einer von rund 600’000 pflegenden Angehörigen in der Schweiz. Mit ihrem Engagement bilden sie eine unverzichtbare Stütze des Schweizer Gesundheitssystems, wie das Bundesamt für Gesundheit auf seiner Website festhält.
Es war eine Aufgabe ohne Pause. Auch mitten in der Nacht musste Zihlmann für sie da sein. Häufig sass sie wach auf dem Bett, unfähig, einen nächsten Schritt zu tun. «Ich sagte ihr, sie könne sich jetzt hinlegen, ich würde sie schön zudecken.» Aber Béatrice reagierte nicht. Vielleicht verstand sie seine Worte nicht mehr, im Nebel ihrer Krankheit. «Ich konnte sie doch nicht einfach auseinanderdrücken wie ein Klappmesser. Also sass sie stundenlang so auf dem Bett.» Man hört seiner Stimme die Verzweiflung dieser Nächte noch immer an.
Angefangen hatte die Krankheit ein paar Jahre davor. Béatrice, schon von Natur aus eher schweigsam, zog sich immer mehr in sich zurück. Und sie wurde vergesslicher. Zihlmann erzählt von ersten Hinweisen auf eine Demenz. Etwa, als sie vertraute Wege nicht mehr fand. Manchmal rief sie an, weil sie nach dem Coiffeur nicht mehr wusste, wie sie heimkommen sollte. Er dirigierte sie dann am Telefon zu einem Strassenschild oder einem vertrauten Ort, wo er sie abholen konnte.
Doch die Krankheit schritt voran. Zihlmann versuchte sein Bestes, seine Frau angemessen zu pflegen, und zog irgendwann die Spitex hinzu. Er habe das Gefühl, er habe ihr in dieser Zeit etwas zurückgeben können. «Deine Hilflosigkeit macht dich für mich unwiderstehlich», beschreibt er seine Gefühle in dem Buch, das er während und über diese Zeit geschrieben hat. Zihlmann hat schon mehrere Bücher herausgegeben, immer zu Justizfällen. In den einsamen Nächten, in denen er an Béatrices Bett wachte, begann er, mit «Wo bist du?» seine bisher persönlichste Geschichte zu schreiben.
Das Bewusstsein, dass sie geistig irgendwann völlig im Nebel verschwinden oder sterben könnte, mache ihm Angst. Und er ist gnadenlos ehrlich, wenn er sagt: «Wenn sie mich irgendwann nicht mehr erkennt, werde ich vermutlich nicht mehr jeden Tag zu ihr gehen wollen.»
Aber noch existieren Peter und Béatrice Zihlmann als Paar. Eines, das sich nach 60 Jahren Höhen und Tiefen noch immer in die Augen schaut und an den Händen hält.
Und wenn er wieder gehen muss, dann muss sie manchmal weinen.
Nina Jecker
«Wo bist du?» – Lesung mit Peter Zihlmann am 12. September
Am Donnerstag, 12. September, liest Peter Zihlmann um 19 Uhr in der GGG-Bibliothek Schmiedenhof in Basel aus seinem Buch «Wo bist du?», in dem er über die Liebe zu seiner Frau Béatrice schreibt und erzählt, wie sie ihm durch die Krankheit immer mehr entgleitet. Aber in dem er auch Hoffnung verbreitet durch die liebevollen Worte, die er noch immer für die Frau findet, in die er sich vor über 60 Jahren verliebt hat. (ni)