«Der Mensch trägt die Gewalt in sich»

Justizkritiker Peter Zihlmann plädiert für mehr Augenmass bei Verwahrungen

Basler Zeitung, 04.05.2013


Basel.
Anfang Juli muss sich Serienvergewaltiger Markus W. vor dem Strafgericht verantworten. Ihm wird vorgeworfen, während seines gelockerten Strafvollzugs mehrere Frauen mit Medikamenten betäubt und dann sexuell missbraucht zu haben. Der Fall ist deshalb so brisant, weil W. bereits wegen Vergewaltigungen von zwei Dutzend Frauen eine lange Gefängnisstrafe verbüssen musste und anschliessend verwahrt wurde. Peter Zihlmann verlangt von den Richtern, trotz der offensichtlichen Untherapierbarkeit mancher Angeklagten, umsichtig zu urteilen und sich ihrer Verantwortung für Gesellschaft und Staat bewusst zu sein. Denn es bestehe die Gefahr, dass dieser «Extremfall» als Orientierung für ein neues System der Ungerechtigkeiten werde, so Zihlmann.

BaZ:
Herr Zihlmann, in Ihrem Buch «Macht Strafe Sinn» kritisieren Sie, dass die Verwahrung oft mit zu leichter Hand verhängt wird. Belegt aber nicht gerade der Fall Markus W., dass von Sextätern eine grosse Bedrohung ausgeht?

Zihlmann:
Der Gedanke, Schlechtes zu verbannen, ist nicht neu, aber brandgefährlich und zudem Illusion. Das Böse lässt sich nicht ausrotten, denken Sie an Amokläufer oder Terroristen. Neu ist, dass Täter, die ihre Strafen abgesessen haben, weggeschlossen werden, um mögliche künftige Taten zu verhindern. Hier besteht ein Gesinnungswandel. Im Einzelfall wie bei Markus W. mag die Verwahrung richtig sein, ich kritisiere aber den Denkansatz.

Wieso halten Sie so wenig davon, das Risiko für die Bevölkerung so weit wie möglich zu reduzieren?

Weil es im Leben kein Nullrisiko gibt. Es wird uns eine Scheinsicherheit vorgegaukelt.

In Deutschland hat 2012 eine psychiatrische Gutachterin über einen rückfällig gewordenen mehrfachen Sextäter gesagt, das Verhalten, Übergriffe zu begehen, habe sich in krankem Masse in seine Persönlichkeit eingeschliffen. Kann es nicht sein, dass gewisse Menscheneinfach untherapierbar sind?

Die Haltung, wir könnten und müssten einen gemeingefährlichen Menschen neutralisieren, birgt eine grosse Gefahr: Wen ungerechtfertigt ein Verwahrungsurteil trifft, der hat keine Chance. Hier befinden wir uns seit rund 20 Jahren in einem Paradigmenwechsel.

Inwiefern?

Bisher haben wir als Gesellschaft immer eine Tat beurteilt. Die dafür ausgesprochene Strafe haben Richter zuzumessen nach gesetzlichen Strafrahmen und dem Grad des Verschuldens des Täters im Einzelfall. Gegenüber dem Gewohnheitsverbrecher hat man Verwahrung ausgesprochen. Der Name sagt es schon: Ein solcher Täter hatte eine lange Latte an Delikten hinter sich. Jetzt ändert sich diese Praxis: Eine einzige Tat und eine schwere psychische Störung genügen. Wir reagieren nicht mehr auf das Delikt selber, sondern auf die Gefährlichkeit des Täters. Es besteht die Gefahr, den Menschen hinter der Tat zu vergessen und einer Schwanz-ab-und-Kopf-ab-Mentalität zu verfallen.

Was sollte der Staat denn anderes tun, als strafen und verwahren?

Ich würde sagen, jede Gesellschaft hat die Verbrechen, die sie verdient und – meist unbewusst – begünstigt.

Wie ist das zu verstehen?

Der Blick in die jüngere Zeitgeschichte zeigt unglaubliche Veränderungen gerade im Sexualstrafrecht. Homosexualität, Ehebruch, Konkubinat, Kuppelei und Zuhälterei, Pornografie – das alles wird strafrechtlich nicht mehr verfolgt. Und Strafexperten diskutieren darüber, ob Inzest unter Erwachsenen nicht aus den Gesetzbüchern gestrichen werden soll. Mit der sexuellen Revolution bekam der hedonistische Lebensstil Auftrieb. Wir erlebten Bill Clinton und Silvio Berlusconi mit ihren ausschweifenden Eskapaden. Einerseits gab man Sex frei, auf der anderen Seite wuchs die Angst vor diesen «Sextätern». Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1992 strafbar. Dass man eine Frau nicht verletzen, sie zu nichts zwingen und ihr respektvoll begegnen soll, diese Haltung gab es schon lange vor der heutigen Diskussion.

Es ist aber eine Tatsache, dass Sextäter trotz der neuen gesellschaftlichen Offenheit nicht Sex kauften oder ungezwungene Affären unterhielten, sondern Kinder schändeten und Frauen betäubten, um sich an ihnen zu vergehen.

Ja, das ist letztlich Gewalt. Ich will diese Taten nicht verharmlosen und die Gerichtsurteile nicht relativieren. Der Mensch trägt die Gewalt und die Sehnsucht nach Abenteuer in sich, das ist, wenn Sie so wollen, genetisch und hormonell bedingt. Unsere Gesellschaft kultiviert beinahe exzessiv die Prävention durch Wegschliessen, während gleichzeitig gefährliche Extremsportarten hohes Ansehen geniessen. Unter dieses Kapitel fällt auch die Gewalt in Videospielen und in Filmen, die im krassen Widerspruch zu dieser Nullrisiko-Mentalität stehen. Mir geht es darum, diese Heuchelei aufzuzeigen.

Tut der Staat nicht gut daran, eine Art Filter zu installieren, damit Menschen wie Markus W. erkannt und von der Gesellschaft ferngehalten werden können zum Schutze aller?

Selbstverständlich kann man einer Gesellschaft nicht zum Vorwurf machen, dass sie in Frieden leben will. Natürlich können so «Rückfälle» verhindert werden. Aber zu einem rechtsstaatlich zu hohen Preis. Mir missfällt das Denken, dass der Staat alles lösen kann. Die Mentalität «einschliessen und Schlüssel weg» kann es doch nicht sein. Wie gesagt: Wir sollten auf die Tat reagieren und nicht auf den Menschen, wie er halt nun mal ist.

Forensische Psychiater würden widersprechen. Sie verfassen im Auftrag von Gerichten Gutachten und schätzen die Gefahr ab, die von einem Täter ausgeht.

Und genau hier lauert die Gefahr. Bewährte rechtsstaatliche Grundsätze, die über die vergangenen 300 Jahre aufgebaut wurden, werden plötzlich umgestossen. Damals kam das Schuldstrafrecht. Man beurteilte Täter immer auf die Sache, die Tat hin. Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass nicht mehr Mitmenschlichkeit und Augenmass entscheidend sein sollen, sondern eine neue Emotionslosigkeit, dem ein technokratisches, totalitäres Denken zugrunde liegt. Heute wird an den Universitäten ein auf Paragrafen und Anwendung reduziertes Rechtsverständnis gelehrt, in dem das Verhältnismässigkeitsprinzip, das ja nichts anderes bedeutet als das sture Aufbrechen von Recht, kaum mehr Platz hat.

Sie sagten einmal, Richter verstecken sich hinter Gutachten. Wie genau meinten Sie das?

Richter können gewisse Dinge logischerweise nicht aus der eigenen Kompetenz, aus der eigenen Erfahrung heraus beurteilen. Somit ist es nur logisch, wenn sie eine Expertise ausarbeiten lassen. Mit dem Gefährlichkeitsgutachten wandelt sich die Diagnose eines Psychiaters allerdings zu einer Prognose, und das ist wie eine Wetterprognose etwas ganz anderes. Eine Wahrscheinlichkeit ist Statistik und sagt wenig aus über den Einzelfall. Wenn es heisst, bei dem Mann XY besteht eine hohe Rückfallgefahr, dann bleibt er weggesperrt, ohne dass er sich bewähren könnte. Übrigens: Gutachter können sich irren – auch das belegt der Fall W. Es war ein Psychiater, der ihm in Kenntnis seines Vorlebens eine gute Prognose erstellte und den gelockerten Strafvollzug unterstützte.

Was also schlagen Sie vor?

Eine Rückbesinnung auf die Eckpfeiler unseres Rechtsstaates, der auf persönlicher Freiheit und Verantwortung basiert. Die Gesellschaft läuft Gefahr, Mechanismen zu installieren, die es für jeden, der da reingerät, praktisch unmöglich macht, wieder rauszukommen. Für die Nullrisiko-Iidee nimmt man Ungerechtigkeit in Kauf. Wir dürfen in der Schweiz nicht 400Menschenwegsperren, ohne dass wir wirklich wissen, wer unter ihnen tatsächlich rückfällig geworden wäre.

Ist das nicht blauäugig, gerade bei als hoch gefährlich eingestuften Tätern?

Es geht mir um die Einstellung der Gesellschaft. Wir neigen dazu, selbstgerecht und überheblich zu sein, und denken nicht daran, dass sich niemand aussuchen kann, wie er ist. Als Jesus sich schützend vor die Ehebrecherin Maria Magdalena stellte, die gesteinigt werden sollte, hat er den Strafvollstreckern gesagt, wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. Das formuliert treffend das Grundproblem.

Kritische Gedanken als Markenzeichen

Basel. Peter Zihlmann war nach Studien in Basel, New York und Paris zuerst als Rechtskonsulent eines Chemiekonzerns und dann in einer Handelsfirma tätig. Ab 1973 wirkte er als selbstständiger Rechtsanwalt, Notar und nebenamtlicher Richter in Basel. Von 1980 bis 2000 war er als ausserordentlicher Mietgerichtspräsident tätig. Er spezialisierte sich auf Strafverteidigungen. Immer wieder trat er mit der Schweizer Justiz in einen Kampf um die Gewährung von Grundrechten im Strafprozess. Während der Basler Justizaffäre im Jahr 1998 verteidigte er die von den Justizorganen als V-Frau eingesetzte Graziella Klages im Fall Cosco vor Gericht. Von 1994 bis 2004 war er als Privater Ombudsmann tätig und beriet Menschen in Not. Unter Anwälten und Richtern ist Zihlmann nicht unumstritten. Seine kritische Haltung findet sich auch in seinen literarischen Büchern wieder. Heute befindet sich Zihlmann im Ruhestand.

Von Mischa Hauswirth

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