Riehener Zeitung, 09.08.2024
Eine zarte, naive Zeichnung einer Frau, die offenbar so klein ist, dass sie sich unter Blumen verstecken kann, ziert das Cover des Buchs «Wo bist du?» von Peter Zihlmann. Mit geschlossenen Augen sitzt sie wie schlafend da und es scheint, als ob diese Zeichnung extra für dieses Buch geschaffen worden sei. Denn im sehr persönlichen Text mit dem Untertitel «Eines langen Lebens Reise ins Vergessen» schildert der Autor das Zusammenleben mit seiner Frau, das sich aufgrund ihrer Demenz grundlegend verändert hat. Es sei verziehen, das Wort «Demenz» im Zusammenhang mit diesem feinfühligen poetischen Werk zu verwenden, das viel mehr als ein Bericht über eine fortschreitende Krankheit ist. Das Wort kommt auch nirgends zwischen den Buchdeckeln vor. Und doch dreht sich alles ums Vergessen und Erinnern und übergeordnet um die Liebe, die sich vielleicht mit dem Vergessen nicht ändert, aber die sich in einem anderen Umfeld wiederfindet.
Die kleine Frau unter den Blumen scheint sich nicht bewusst zu sein, dass sie gesucht wird. Sie lebt in einer eigenen Welt mit fantastischer Natur, die kindlich und zugleich paradiesisch anmutet. Die Zeichnungen – im Inneren des Buchs sind weitere zu finden – stammen von Béatrice Zihlmann, der Frau des Autors. Geschaffen hat sie diese in jungen Jahren.
Zihlmann berichtet aus der Sicht desjenigen, der sich noch erinnern kann. In vier Kapiteln, die seine eigene gedankliche und gefühlsmässige Entwicklung in dieser Lebensphase zu widerspiegeln scheinen, schildert er das Leben mit seiner Frau und seiner Familie, spricht seine Frau in optisch kenntlich gemachten Passagen immer wieder direkt an und reflektiert dabei sein eigenes Tun auf beeindruckende Weise. «Viele ungezählte Stunden verbrachten wir so, den langen Augenblick geniessend unter der wärmenden Herbstsonne, im letzten Herbst, im Spätherbst unseres Lebens.» So beschreibt der Autor präzise die Phase, als das «Verschwinden» und «Vergessen» noch nicht überhandgenommen hatten.
«Wo bist du?» ist ein in vielerlei Hinsicht unbedingt lesenswertes Buch, und zwar nicht nur für Leute, die ähnliches erlebt haben. Die selbstkritische Haltung, mit der Zihlmann im Moment, als die gemeinsamen Erinnerungen wegfallen, befürchtet, seine Frau zu wenig kennengelernt zu haben, seine humorvollen, aber stets auch respektvollen Schilderungen des Pflegeheims und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und die zauberhaften Schilderungen der immer noch freudvollen Begegnungen mit der geliebten Frau sind nur ein Teil der Gründe dafür. Es ist eine Liebeserklärung an die Geliebte sowie ein philosophisches und zutiefst ehrliches Buch, das trotz aller trauriger Stimmungen Hoffnung macht.
Michèle Faller