Zum Umgang mit Telefonkontrollen und Zufallsfunden

Richter versagen bei Überwachung

Basler Zeitung, 22.03.2016
Von Peter Zihlmann

Was im Lokalteil einer Zeitung steht, reicht meist nicht über die Tagesaktualität hinaus; der Bericht vom Freitag (BaZ vom 18. März, Seite 28) über geheime Telefonkontrollen (TK) in einem Strafverfahren gegen Türkenbrüder schon. Das Strafgericht Muttenz verhandelte eine widerliche Gewaltgeschichte unter Türken, die in einer Scheinhinrichtung durch zwei Brüder gipfelte. Der Staatsanwalt hatte das Telefon des Haupttäters abgehört und dabei erfahren, dass ein dritter Bruder wegen einer anderen Sache belangt werden konnte, einer Gehilfenschaft in einem eher unbedeutenden Versicherungsbetrug (Strafantrag: zwölf Monate bedingt). Solche «Zufallsfunde» (StPO Art. 278) müssen vom Staatsanwalt dem Richter unverzüglich zur Prüfung vorgelegt werden. Der Betroffene ist vor Anklageerhebung über die Abhörung zu informieren, damit er die TK anfechten kann. Über beides setzte sich der Staatsanwalt hinweg.

Es war zu erwarten, dass die Richter seine fehlerhaft erworbenen Beweismittel zurückweisen. Das Gegenteil passierte: Willfährig genehmigte der Zwangsmassnahmenrichter die verspätete, unverhältnismässige TK, und dem Sachgericht fehlte der Mut, die Beweismittel aus dem Recht zu weisen. Alle Fehler sollen ohne Folgen sein. Der Erledigungsdruck beugte die versagenden Richter. Das Urteil steht noch aus, aber die Zeichen stehen gemäss dem BaZ-Bericht auf Sturm.

Was für eine Verluderung der Justiz auf dem sensiblen Gebiet der Bespitzelung durch den Staat! Ein Einzelfall, gewiss nicht der schlimmste, nur einer unter vielen, die Spitze des Eisbergs! Dabei ist noch kein Jahr verstrichen, seitdem die Staatsanwaltschaft im Nachbarkanton wegen des Verdachts der Amtsgeheimnisverletzung im Zusammenhang mit dem staatlichen «Schwedenreisli» sich direkt bei Swisscom unter Umgehung richterlicher Genehmigung Telefondaten beschaffte. Es kam damals in Basel zum Freispruch (BaZ vom 28. Mai 2015).

Diesmal erscheint dies unwahrscheinlich. Wir haben aus lauter Angst vor Kriminalität und infolge der ständigen Behämmerung durch Angstmacher das Sensorium für den unwiederbringlichen Abbau unserer Freiheitsrechte verloren. Wer schützt uns jetzt noch vor staatlicher Bespitzelung?

Neu ist das alles nicht. In Deutschland folgte dem kleinen Lauschangriff 1995 der grosse mit der Möglichkeit, nicht nur Personen, sondern auch Büros und Wohnungen technisch zu überwachen. Es war für mich ein unvergessliches Erlebnis, die mutige deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu erleben, wie sie daraufhin mit den Tränen kämpfend ihren Rücktritt begründete.

Tradition des Unrechts

In der Schweiz wären solche starken Zeichen undenkbar. Der grosse Angriff erfolgte bei uns sanft, unbeachtet und föderalistisch vermummt. Es begann mit einigen Dutzend TK der Bundesanwaltschaft und mit etlichen Hunderten TK der Kantone, Tendenz steigend. (Vgl. mein Essay «Justiz im Irrtum», Zürich 2000, S. 27ff.) Jetzt werden im Kanton Baselland allein in einem Jahr 1339 Überwachungsmassnahmen durchgeführt.

Auch die hässliche Basler Justizaffäre von 1998 begann mit ungesetzlicher Verwanzung einer missbrauchten V-Frau. Alle Verfahren gegen Beamte wurden damals niedergeschlagen, vieles wurde unter den Teppich gekehrt, mit professoraler Assistenz ein «Justizskandal» widerrufen und das Recht gebeugt. (Vgl. meinen Bericht «Richter Hartmanns letzte Aufzeichnungen zur Basler Justizaffäre», Basel 2009.)

Es gibt in Basel neben der humanistischen Tradition eine vielfach unbeachtete Unrechtstradition, die ihre Wurzeln tief im Mittelalter verankert hat. Andreas Heusler wies darauf hin, dass dem Gründer der Basler Universität, Äneus Silvius Piccolomini, «die wollüstige Grausamkeit und die unerschöpfliche Erfindungskraft in der Verschärfung der Todesstrafe sowie die unerbittliche Härte der Basler Justiz» aufgefallen sind («Basels Gerichtswesen im Mittelalter», Basel 1922, S. 39ff.).

Ich wage schon lange nicht mehr, von einem intakten Rechtsstaat Schweiz zu sprechen. Natürlich ist die Todesstrafe abgeschafft, kann es noch schlimmer kommen, gibt es Staaten, die ein viel mangelhafteres Rechtssystem haben als wir, es gibt sogar «failed states». Aber wir sollten uns nicht am Schlimmen orientieren, sondern am Gerechten, das in einem langen geschichtlichen Prozess vor allem in England, den frühen USA und Frankreich und auch in unserer Demokratie von politisch reifen Menschen zum Grundgesetz erhoben worden war. Wie leichtfertig wir dieses Kapital jetzt verspielen.

Anwalt Peter Zihlmann war Strafverteidiger und ausserordentlicher Gerichtspräsident und war als privater Ombudsmann tätig. Derzeit ist er mit Sohn Alexander im Kleinverlag Arte Legis Editions tätig, wo das Werk «101 Tage – mitten aus dem Leben gerissen» des SVP-Politikers Mario Babini erschien.