Die Würde ist fürs Strafrecht wichtig

Basler Zeitung, 11.02.2015

Der Justizkritiker Peter Zihlmann warnt davor, Straftäter zunehmend präventiv wegzusperren. Auch Papst Franziskus hat Juristen auf der ganzen Welt aufgerufen, strafrechtlicher Willkür entgegenzutreten.

Ein Satz liess Peter Zihlmann aufhorchen: In einer kürzlich gehaltenen Rede über das Strafrecht sagte Papst Franziskus sinngemäss, es würden zunehmend Sündenböcke gesucht, die mit ihrer Freiheit und ihrem Leben für alle sozialen Übel zahlen müssten. So etwas sei früher in primitiven Gesellschaften typisch ge­wesen. Diese Aussage liess den Basler Justizkritiker nicht mehr los.

Zihlmann, der in seiner Amtszeit als Anwalt und Richter nie müde geworden war, Justizmissstände zu kritisieren und dafür zu plädieren, dass das Strafrecht die Menschlichkeit nicht aus den Augen verliert, fühlt sich durch den Papst in seiner Überzeugung bestätigt. «Sein Wort, wonach die lebenslange Freiheitsstrafe eine versteckte Todes-strafe sei, hat mich wie ein Blitz getroffen. Es braucht grösste Achtsamkeit, dass wir im Strafrecht nicht nach und nach die elementaren Errungenschaften des normativen Projektes des Westens mit den Deklarationen der Menschenrechte von 1776 i n Virginia und 1789 in Frankreich verlieren», erklärt Zihlmann.

Besonders die jüngste Entwicklung in der Schweiz gibt Zihlmann zu denken. Richter sprechen häufiger eine Verwahrung gemäss Art. 64 des Strafgesetzbuches aus, ebenfalls nehmen die stationären therapeutischen Massnahmen nach Art. 59 zu. Gemäss Bundesamt für Statistik betrug der mittlere Insassenbestand 2013 für Verwahrte 141 Personen und für stationäre Massnahmen 687 Personen. In den vergangenen vier Jahren wurden jedes Jahr vier Personen neu verwahrt und rund 150 Personen zu einer stationären Massnahme verurteilt. Da pro Jahr lediglich 15 Personen aus stationären Massnahmen entlassen werden, braucht es 135 neue Therapieplätze jährlich. Im Kanton Basel-Stadt befinden sich zurzeit 64 Personen in einer stationären Massnahme und neun Personen in einer Verwahrung, wie das Justiz- und Sicherheitsdepartement auf Anfrage mitteilt.

Aufruf zur Wahrung der Würde

Zihlmann beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit der Frage, ob Strafe die gewünschte Wirkung hat und verfasste Bücher wie «Macht Strafe Sinn?» darüber. Letztes Jahr hat er auf den Fall des todkranken Häftlings Jerry aufmerksam gemacht, der wegen Sexualdelikten während Jahrzehnten verwahrt worden war. Schwerkrank, hatte der Mann den Wunsch, zu Hause bei seiner Lebensgefährtin zu sterben. Obwohl keine Gefahr mehr bestanden habe, dass der Mann flieht oder eine neue Tat begeht, habe die Justiz ihm diesen letzten Wunsch abgeschlagen, berichtet Zihlmann. Er verfasste über diese Geschichte ein Buch: «Drei Tränen für Jerry» (Arte Legis Editions, Basel 2014).

Für Peter Zihlmann ist schon seit einiger Zeit im Strafrecht ein schleichender Paradigmenwechsel im Gang. Statt schuldangemessen zu bestrafen, gehe es immer mehr um präventives Wegschliessen. «Vorsicht», sagt Zihlmann. «dies verletzt den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismässigkeit in der Strafzumessung.»

Papst Franziskus hat die Juristen auf der ganzen Welt aufgerufen, den unheilvollen Tendenzen des Strafrechts entgegenzutreten und die Würde des Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen und als Leitschnur zu benützen, wenn es darum geht, Regelverstösse zu sanktionieren.

Das Strafrecht ausser Kontrolle?

Jene, die Opfer von Gewalt- und Sexualverbrechen sind, haben wenig Verständnis für diesen Appell. Viele von ihnen unterstützen die Verwahrungs- Initiative von Nationalrätin Natalie Rickli (SVP). Sie fordert eine härtere Gangart bei der Bestrafung von Sexual- und Gewalttätern sowie eine raschere Verwahrung. Das Hauptargument: Die Gesellschaft habe ein Recht darauf, vor gefährlichen Individuen geschützt zu werden. Der Papst warnte davor, Einzelfälle für den «strafrechtlichen Populismus» zu missbrauchen, was besonders von «einigen skrupellosen Politikern» getan werde. Zihlmann beobachtet diesen Populismus schon länger. «Das Strafrecht gerät ausser Kontrolle, wenn es präventiv eingesetzt wird. Es ist Ultima Ratio, daher muss Strafe eingedämmt werden», findet Zihlmann. Weil einige Häftlinge ihr Leben in Zellen verbringen und dort sterben, hat der Papst von einer «versteckten Todesstrafe» gesprochen.

Die Befürworter von mehr Verwahrung halten den universitären Debatten, was Strafrecht soll und kann, die Realität entgegen. Brutale, verstörende Fälle wie jene von Lucie im Aargau, Marie im Waadtland oder Adeline in Genf seien Beweis genug, dass die heutige Verwahrungspraxis immer noch zu viel Verständnis für Täter aufweise. Es komme zu Hafterleichterungen, die dann Frauen das Leben kosteten. Solche Ereignisse würden Fehlentwicklungen im Rechtsalltag radikal infrage stellen, und das habe nichts mit Populismus zu tun, sagen die Anhänger der Verwahrungs-Initiative. Und jene, die für die Wiedereinführung der Todesstrafe sind, sehen in solchen Fällen den Beweis dafür, dass ein grausames Verbrechen eine finale Bestrafung rechtfertigt.

In Sachen Todesstrafe hat der Papst allerdings deutlich Stellung bezogen: «Alle Christen und Menschen guten Willens sind dazu aufgerufen, nicht nur für die Abschaffung der Todesstrafe in all ihren Formen zu kämpfen, sondern im Respekt der menschlichen Würde von Menschen in Unfreiheit auch für eine Verbesserung der Haftbedingung.» Dem kann Zihlmann nur beipflichten.

Von Mischa Hauswirth