Darf man mit einem Vergewaltiger Mitleid haben?

Blick, 03. November 2014

Darf man mit einem Vergewaltiger Mitleid haben?

Diese und andere Fragen stellt man sich nach der gestrigen «Reporter»-Sendung.

TV-Checker Padrutt über SRF-«Reporter»

Gestern Abend, viertel vor zehn: Man ist bewegt, aufgewühlt, irritiert. Das Schweizer Fernsehen schildert die letzten zehn Tage des todkranken Mehrfachvergewaltigers Jerry (57). Der Basler mit bürgerlichem Namen Rolf Taschner hat noch zehn Tage zu leben. Seine Leber ist kaputt. Jerry, zwischen Rockern und Zuhältern aufgewachsen, hat einen letzten Wunsch. Er will in Freiheit sterben – in den Armen seiner geliebten Brigitte. Wir sehen den schwer gezeichneten Sträfling auf seinem letzten Weg ins Sterbehospiz. Die Gefängnisleitung hat es bewilligt – der Justizvollzug war dagegen. Man hat Mitleid mit Jerry. Aber ist trotzdem hin und her gerissen.

Denn Jerry ist alles andere als ein Unschuldslamm. Drei Tränen hat er sich in den Hals tätowieren lassen. Drei Tränen für je zehn Jahre Gefängnis. Er hat Frauen brutal vergewaltigt – das sind unverzeihliche Straftaten. «Bitte geben Sie mir eine Chance, ich bin ein anderer Mensch geworden», flehte Jerry. Bereits drei Jahre vor seinem Tod hatte er die Entlassung aus der Verwahrung beantragt. Man denkt nach, viele Fragen stellen sich.

«Seit längerem beschäftige ich mich mit dem Thema Altwerden und Sterben im Knast», erklärt Dok-Autor Alain Godet seinen Film. Der ehemalige Richter und Justizkritiker Peter Zihlmann habe ihn auf den Fall aufmerksam gemacht. «Zusammen haben wir Jerry im Spital Sursee besucht. Er wollte unbedingt vor seinem Tod sein Schicksal an die Öffentlichkeit bringen.“

Godets «Reporter» verunsichert. Die Tränen im Film verleiten einen dazu, dass man sich auf die Seite Jerrys schlägt. Und nicht auf jener des Strafvollzugs. Das ist heikel. Man beginnt aber auch wichtige Fragen zu stellen: Dürfen Verwahrte im Sterbehospiz gepflegt werde? Ja, wenn sie deliktunfähig sind, nicht mehr fliehen können. Sollen schwer Kriminelle eine Chemotherapie, ja eine unheimlich teure Transplantation bekommen? Oder haben sie das Recht darauf mit ihren Taten verwirkt? Wie geht unsere Gesellschaft damit um, dass auch Häftlinge immer älter und von Krankheiten betroffen werden?

Der Film über Jerry wirft viele Fragen auf. Antworten bekam man nur wenige. Man hätte sich Einordnung von Juristen, Medizinern und Ethikern gewünscht. Godet liess diese absichtlich weg. Mit dem Effekt, dass man für einen Serien-Vergewaltiger Mitleid empfindet.