Brief des Autors an den Hüter von Jerrys letztem Gefängnistor

Herrn
Dr. iur. Dominik Lehner
Justiz- und Sicherheitsdepartement
Leiter Abteilung Strafvollzug
Spiegelgasse 12
4001 Basel

Rolf Taschner
Drei Tränen für Jerry – Requiem für einen Fehlbaren

Sehr geehrter Herr Lehner

Vor einer Woche sendete 3Sat nochmals den Film Drei Knasttränen für Jerry von Alain Godet, eine Produktion von SRF 1 aus dem Jahr 2014. Jerry starb noch während der Dreharbeiten. Er war von Ihnen bis zu seinem Exitus im Strafvollzug behalten worden und Sie haben bis zu seinem letzten Atemzug über ihn verfügt. Der Wunsch seiner ersten Liebe, die dreissig Jahre später zu seiner Sterbebegleiterin wurde, blieb für Sie unbeachtlich.

Seit Jerrys Tod sind über zwei Jahre vergangen. Jetzt ist auch der Bericht in Buchform über sein Leben und Sterben, den ich noch während der Dreharbeiten aufgezeichnet habe, vergriffen. Das Werk habe ich ihm, den alle Jerry nannten, gewidmet. Das letzte Exemplar halte ich in Händen und ich widme es Ihnen, Herr Lehner, als seinem gesetzlichen und rechtlich legitimierten Peiniger und Hüter des letzten Gefängnistores. Gewiss werden Sie sich an ihn erinnern.

Titel und Untertitel meines Buches werden Ihnen vermessen erscheinen angesichts der offenkundigen Abscheulichkeit des von Ihnen verwalteten Kriminellen, eines Mehrfachvergewaltigers, der dreissig Jahre hinter Gittern zubrachte. Ich möchte, dass Sie dieses Buch in die Hand nehmen, es zumindest öffnen und hineinschauen. Es ist möglich, dass Ihr Blick an einer Textstelle hängen bleiben oder vielleicht auch an einem Originaldokument, das ich angefügt habe, verweilen wird. Es könnte ja sein, dass für einen Augenblick für Sie aus den Buchseiten eine andere Wirklichkeit aufscheint.

Gewiss ist das Buch ein unzeitgemässes und singuläres Dokument, weil es nicht nur Fakten enthält, sondern am Ende auch von Trauer und Tränen zeugt, also von Emotionen, die für einen Verbrecher fehl am Platz scheinen, jedenfalls vergeudet, so als seien sie falsch adressiert. Den Opfern gebührt Empathie und Zuwendung. Gewiss! Wer möchte das in Zweifel ziehen. Vor jedem Strafen sollten wir uns dem Opfer eines Verbrechens zuwenden, Ausgleich schaffen und Versöhnung versuchen. Aber eine Alternative ist das nicht. Wir werden nicht dem Opfer gerecht, indem wir den Täter mit masslosen „Massnahmen“, mit lebenslangem Einschluss und Ausschluss belegen, immer mehr rein vorsorglich, nur damit einfach nichts mehr passieren kann. Wir tun das in den wenigsten Fällen den Opfern zulieb, handeln wir in deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis. Meist ist es ein schieres, zynisches Verwalten eines Verbrechers, eines nun selbst Gebrochenen. Kein Opfer würde als achtsam handelnder Mensch die staatlich verhängten Qualen mit all ihren negativen Konsequenzen gutheissen oder gar fordern. Rachegefühle können uns dahin führen, das ist gar keine Frage. Aber die Folgen solcher Strafen treffen auch wieder Unschuldige, die Familie und das ganze Umfeld des Weggesperrten, letztlich die ganze Gesellschaft.

Sie, Herr Lehner, haben sich dem Recht verpflichtet, also einer massvollen und mässigenden Disziplin. An Rachegefühlen herrscht auch in unserer Zeit kein Mangel. Es ist nicht Aufgabe der Strafvollzieher, diese üblen Gefühle zu züchten und zu bewirtschaften, wenn auch zuzugeben ist, dass sich das Strafrecht von seiner faulen Wurzel, Rachegelüste der Bevölkerung zu befriedigen, nie ganz lösen kann. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Opferinteresse eine billige Maske ist, hinter der sich kleine Figuren verstecken, um an den Wehrlosen ihre kleinen sadistischen Spiele in den Formen des Rechts und der Bürokratie zu vollziehen. So können sie mit allem Recht der Welt ungestraft ihre niedrigen Impulse abreagieren.

Wie ist es zu erklären, dass Ihre Mitarbeiterinnen ihre bürokratischen Vollzüge und reglementarischen Abläufe angesichts des herannahenden und anstaltsärztlich bescheinigten moribunden Zustandes von Rolf Taschner weiterführten und zu Ende brachten? Rücksichtslos, respektlos. Andere Worte dafür fehlen mir. Das ist auch die unangenehme Frage, die meinem Buch zugrunde liegt und in ihm gestellt wird: Wie ist es möglich, dass in einem Rechtsstaat wie der Schweiz die Würde des Gefangenen mit Füssen getreten wird? Das Strafgesetz selbst hält humane Handlungsspielräume durch Unterbrechung des Strafvollzugs in Artikel 92 „aus wichtigen Gründen“ bereit. Und zudem: Es gab im Fall des Rolf Taschner gar keine Strafe mehr zu vollziehen. Selbst die an deren Stelle getretene Sicherungsverwahrung erfüllte in dieser letzten Zeitspanne von wenigen Wochen keinen Zweck mehr, war also Schikane geworden, Menschenquälerei. Das Modewort vom modifizierten Strafvollzug, das auf die Vollstrecker eine ungeheure Faszination auszuüben scheint, nimmt der rücksichtslosen Vollstreckung ihren üblen Geruch keineswegs. Im Gegenteil treibt es die Jagd der Strafjustiz nach letzten Vollzügen mit ihren neuen Zurichtungen von rollstuhlgängigen Zellen, Krankenstationen und Anstaltsärzten auf die Spitzen eines makabren Totentanzes. Dieser hat ja auch in Basel, das seit dem Mittelalter für seine drakonisch harten Strafvollzüge bekannt ist, Tradition.

Der berühmte Basler Rechtshistoriker und Schöpfer der Basler Zivilprozessordnung Andreas Heusler dokumentierte in seiner Schrift „Basels Gerichtswesen im Mittelalter“ (100. Neujahrsblatt der GGG, Basel,1922, S.39ff) ausführlich, dass Äneus Silvius Piccolomini, der Gründer der Basler Universität „die wollüstige Grausamkeit und die unerschöpfliche Erfindungskraft in der Verschärfung der Todesstrafe im Mittelalter“ aufgefallen war. Dieser schon hatte sich an der „unerbittlichen Härte der Basler Justiz“ gestossen, von der nur Basler Bürger selbstverständlich ausgenommen waren. Gnade walten liess man nur gegenüber Dienern und Klienten „auswärtiger Herrschaften“, die für diese Leute um ihre Vermittlung gebeten hatten. Basel hat durchaus auch eine Unrechtstradition.

Wenn Sie sich in Statements gegenüber der Öffentlichkeit darauf berufen, dass der Strafvollzug der klassische Spielball der Politik sei und dem entgegenhalten, Sie handelten nach europäischen benchmarks und gemäss State of the Arts, so tönt das für mich etwas grosssprecherisch und dient nur nach Ablenkung. Sie tun so als seien Sie Bankdirektor oder CEO eines HighTech-Unternehmens. Dabei geht es immer nur darum, die Augen offen zu halten und im Einzelfall menschlich verantwortlich zu handeln, ohne der Bequemlichkeit nachzugeben oder populistischen Tendenzen des Zeitgeistes.

Irgendwann, sehr geehrter Herr Lehner, werden Sie die Frage beantworten, vor der Gesellschaft, vor dem Hintergrund Ihres Berufsethos, in letzter Instanz vor sich selbst und Ihrem Gewissen. Ich fühle mich gedrängt, Ihnen diese Frage zu stellen. Sie haben für mich erkennbar in einem Einzelfall vollzogen, was sich in der Schweiz vielhundertfach in der Form von sogenannten stationären therapeutischen Massnahmen und Verwahrungen, angeleitet von forensisch zudienenden Psychiatriegurus, laufend vollzieht. Als Sie das Bestimmungsrecht über Rolf Taschner bis zuletzt beanspruchten, waren Sie stur auf Sicherheit fixiert und unempfänglich für Mitmenschlichkeit conspectu mortis.

Jerrys Charaktermängel sind mir verständlicher als die heuchlerische Selbstgerechtigkeit der Systemvollstrecker. Ich habe den Verstorbenen in meiner Darstellung zwar nicht namentlich genannt, aber darüber hinaus nicht geschont, seine Taten nicht beschönigt, sie bis an die Grenze des Zumutbaren und Erträglichen ausführlich geschildert, um das Leiden der Opfer auf diese Weise für die Leser und Leserinnen zu vergegenwärtigen. Deswegen erwogen Rolf Taschners Verwandte mich rechtlich zu belangen. Sie haben es nicht getan.

Lassen wir uns nicht täuschen: Viel steht für den Rechtsstaat auf dem Spiel. Es geht nicht bloss um die paar hundert Menschen, die Sie notfalls als „Knastis“ abtun und deklassieren könnten. Aber die Geschichte lehrt, die Gerechtigkeit ist so wenig teilbar wie die Freiheit. Wir wissen: Wer die Freiheit der Sicherheit opfert, verliert beide. Am Ende derartiger Entwicklungen steht immer ein totalitärer Staat. Und immer gibt es Menschen, die über das Leben anderer machtvoll bestimmen und nicht einsehen, dass wir untrennbar zusammengehören und es nicht möglich ist, das Böse, Abartige oder Gefährliche auszurotten oder unschädlich zu machen. Diese Methode selbst würde sich als das Böse und Gefährliche entpuppen.

Wir werden durch die Enge menschlicher Verhältnisse, durch Unverträglichkeit, Macht- und Geltungssucht Einzelner immer wieder dazu gezwungen sein, diese zu massregeln und zur Räson zu bringen und dazu, soziale Spielregeln einzuhalten. Nie aber dürfen wir uns dazu hinreissen lassen, systematisch, sozusagen wissenschaftlich abstrakt zu Selektionen von Menschen zu schreiten und sie in Gefährliche und Unbedenkliche einzuteilen, so wie das intelligente aber zugleich human erblindete Forensiker uns zumuten wollen. Wir dürfen ihre in Gutachten gekleidete technokratische Weltsicht nicht vollziehen.

Lieber Herr Lehner, ich beneide Sie nicht um Ihre Aufgabe, die Sie sich aufgebürdet haben, die eine übermenschliche Weitsicht und Weisheit verlangt. Und doch kann ich hoffen, dass es jenseits von Gut und Böse, von Gerichten, Anstalten und Behörden einen Ort gibt. Dort wollen und werden wir uns treffen.

Freundliche Grüsse

Peter Zihlmann